»Es hängt von der Situation ab, welcher Führungsstil passend ist«
Von Dr. Ralf Berker
Im Blog-Beitrag aus dem Mai habe ich über Veränderungsprozesse gesprochen und darüber, dass es nur natürlich ist, wenn Menschen Veränderungen erst einmal skeptisch gegenüberstehen. Dass daraus eine besondere Verantwortung der Führungskräfte gegenüber ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern erwächst, liegt damit wohl auf der Hand. Dennoch erlebe ich in vielen meiner Veranstaltungen, dass das Bewusstsein für das Thema Führung längst nicht so verbreitet ist, wie man annehmen könnte.
Was aber bedeutet Führung in einer Welt, in der die Veränderung mehr und mehr zum Normalzustand wird? Die Welt ist VUCA, d.h. volatil, unsicher, komplex und ambig (also mehrdeutig). Alleine darüber, was diese Begriffe im Einzelnen bedeuten, ließe sich ein eigener Blog füllen. Da es dazu aber bereits mannigfaltige Veröffentlichungen gibt, sei in diesem Falle darauf verwiesen.
Kompliziert oder Komplex?
Ein besonderes Augenmerk möchte ich auf den Begriff der Komplexität lenken. Hierzu ist es sinnvoll, sich noch einmal kurz den Unterschied von „kompliziert“ und „komplex“ klarzumachen. Wenn etwas kompliziert ist, dann ist es, wenn auch vielleicht mit etwas Anstrengung, nach allen Regeln der (Ingenieurs-) Kunst lösbar. Es gelten bestimmte Zusammenhänge, Formeln und Gesetzmäßigkeiten – und damit lässt sich die Herausforderung lösen. So ist das Zerlegen und die anschließende Montage z.B. eines Generators oder Leitstandes durchaus kompliziert aber mit Hilfe der entsprechenden Unterlagen und Fachkenntnis lösbar.
Wenn ich aber die Frage stelle, wie hoch der für den morgigen Tag erforderliche Anteil an Residuallast ist, so bedarf es dazu u. a. der genauen Interpretation der Wetterdaten, und diese sind nur bedingt nach Regeln und Erfahrungen vorhersagbar. D.h., hier bewege ich mich im Bereich der Komplexität und damit des Unbestimmten. Die Entwicklungen im weltweiten Energie- und Informationsnetz, die zunehmende Verzahnung und Beeinflussung unterschiedlichster Größe auf internationaler Ebene führen zu mehr und mehr Komplexität in den Systemen – und erfordern damit auch eine andere Art von Mitarbeiterführung, als das noch vor 20 Jahren der Fall war.
Moderne Führung – die Stacey Matrix
Wie ein solches modernes Führungsverhalten aussehen kann, hat Ralph Douglas Stacey (britischer Organisationstheoretiker und Professor an der Hertfordshire Business School) sehr schön in einer Matrix dargestellt (siehe Bild).
Auf der X-Achse finden wir ein Maß für den Bekanntheitsgrad der verwendeten Technologie, so z.B. bei der Entwicklung regenerativer Energien aber auch des Einsatzes moderner Verfahren zur Effizienzsteigerung konventioneller Kraftwerke. Je weiter vom Nullpunkt entfernt, umso weniger sind die neuen Technologien bekannt.
Auf der Y-Achse ist das Maß für die Anforderungen aufgetragen. So können Energieversorger der Anforderung nach kostengünstiger und verfügbarer Energieversorgung auf unterschiedlichste Weise gerecht werden. Auch hier steigt mit der Entfernung vom Nullpunkt die Ungewissheit darüber, welche Verfahren oder Methoden die richtigen sind.
[Im Original arbeitet Stacey auf der X-Achse mit dem Mehr oder Weniger an Sicherheit (Certainty) und auf der Y-Achse Zustimmung (Agreement). An anderer Stelle werden die Begriffe „What“ (was zu tun ist) für die X-Achse und „How“ (wie etwas zu tun ist) auf der Y-Achse dargestellt.]Allen Darstellungen gemein ist die Entwicklung von sehr einfachen über komplizierte bis hin zu komplexen Lösungsszenarien. Daraus abgeleitet, muss auch die Führung des Unternehmens diesen unterschiedlichen Szenarien Rechnung tragen. Besonders interessant wird die Darstellung im oberen rechten Quadranten, denn hier wird von Stacey auf die Komplexität noch das Chaos (im Original: Anarchy) aufgesetzt. Nun bedeutet aber Anarchie (vom dem griechischen anarchos abstammend) übersetzt Gesetzlosigkeit oder Herrschaftslosigkeit, also eine Gesellschaft, in der eben niemand das Sagen hat. Wie kann eine Führungskraft in solch einem Umfeld führen?
Wann führe ich wie?
Die Antwort darauf finden wir in den Modellen agiler Unternehmensorganisationen. Der Stammesführer in einer agilen Organisation entspricht in etwa einem Abteilungs- oder Bereichsleiter klassischer Unternehmen. Allerdings mit dem wesentlichen Unterschied, dass die von ihm geführten Trupps (Squads) alleinverantwortlich darüber entscheiden, welche Aufgaben sie wann zum Wohle des Kunden tun. Die Aufgabe des Stammesführers liegt einzig darin, dass die Trupps seines Stammes „das bestmögliche Umfeld zum Gedeihen haben“ (siehe auch Torsten Scheller: Auf dem Weg zur agilen Organisation).
Und damit ist der Bereich des agilen Führens auch schon klar definiert: Hier geht es nicht um Ansagen, Vorgaben und Kontrolle. Sondern darum, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ein Arbeitsumfeld zu schaffen, worin sie in ihrer maximalen Kreativität zum Wohle des Kunden arbeiten, eigenverantwortlich handeln und im Sinne des Unternehmens agieren können.
Bedeutet dies, dass „klassische Führung“ ersetzt wird? Nein, ganz und gar nicht! Es gibt nach wie vor Situationen – und das sind in Staceys Matrix eben die einfachen und maximal komplizierten Situationen im Unternehmensalltag –, die sich sehr gut mit klassischem „Plan, Act, Control“ bewältigen lassen. Die Herausforderung an die Führungskräfte liegt darin, die richtige Balance zu finden, in welcher Situation welcher Führungsstil der passende ist. Was früher auch unter dem Begriff der situativen Führung postuliert wurde, findet sich in der heutigen Literatur unter dem Begriff des beidhändigen Führens oder auch Ambidextrie im Digital Leadership.
Siehe auch die anderen Teile dieser Serie:
Teil 4: Wie führe ich ein Unternehmen ohne Führungskräfte?
Teil 5: Probleme lösen mit dem Double Diamond-Modell
Teil 6: Wie Führungskräfte die richtige Balance im Umgang mit Expertenwissen finden
Dr. Ralf Berker ist Trainer, Coach, Berater und Moderator für Großveranstaltungen. Darüber hinaus organisiert und managt er Strategieworkshops seiner zum großen Teil mittelständischen Kunden. Bevor er diese Aktivitäten unter dem Label „Berker IMPULS“ vor sechs Jahren startete, war der ausgebildete Elektrotechnikingenieur als Geschäftsführer, als Bereichs- und Vertriebsleiter in der Informations- und Kommunikationstechnik sowie in der Energie- und Automatisierungstechnik tätig.