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Erster Handelsblatt Wasserstoff-Gipfel fordert Tempo und Technologieoffenheit bei der Transformation

Wasserstoff-Gipfel
BASF-Chef Brudermüller wählte beim Handelsblatt Wasserstoff-Gipfel aufrüttelnde Worte, um zum Anpacken zu ermuntern: „Deutschland ist dabei, seine Chancen zu verspielen. Ohne Tempo werden die Träume platzen." (Bilder: Handelsblatt)

Handelsblatt Wasserstoff-Gipfel: Ein vielstimmiger Weckruf an die Politik

Von Dr. Anke Schäfer *

„Eine Welt voller grüner Innovationen“ – mit diesem leidenschaftlichen Plädoyer Nico Rosbergs, Unternehmer und Investor für grüne Technologien und nachhaltige Mobilität, ließe sich ein pointiertes Resümee zum > Handelsblatt Wasserstoff-Gipfel 2021 ziehen. An zwei vollgepackten Veranstaltungstagen diskutierte das hochkarätig besetzte Plenum am 26. und 27. Mai 2021 eine der Schlüsselfragen zur Erreichung der Klimaziele: Wie gelingt Wasserstoff der Durchbruch? Dabei bot das digitale Konferenzprogramm eine solche Fülle an strategischen Einblicken und Praxisimpulsen, dass der fachliche Austausch auch bei einer Verlängerung sicher nichts an Lebendigkeit und Relevanz verloren hätte.

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Formel 1-Weltmeister Nico Rosberg plädierte für eine Welt voller grüner Innovationen.

Und vielleicht könnte so mancher Entscheidungsträger etwas ganz Entscheidendes von der Formel 1 lernen – nämlich Schnelligkeit, gesunden Pragmatismus und ein sicheres Gespür dafür, auch unter Druck erfolgreich Spitzenleistungen abzurufen. Wie sehr solche Eigenschaften gerade beim Einstieg in die Wasserstoffwirtschaft gefragt sind, zeigten bereits die Diskussionsbeiträge zum Konferenzauftakt. „Schluss mit dem Klein-Klein. Wir müssen mutiger und deutlich größer denken“, brachte es Prof. Dr. Siegfried Russwurm, Präsident des BDI, auf den Punkt. Hauruckaktionen innerhalb weniger Tage und ein Überbietungswettbewerb der Politik mit immer neuen Zielvorgaben seien nicht hilfreich: „Wir haben kein Erkenntnisproblem. Lassen Sie uns jetzt richtig loslegen.“ JETZT seien Investitionen und Entscheidungen aus der Politik notwendig, denn „die Welt wartet nicht auf uns“, wie die USA, Japan und Australien schon heute eindrücklich beweisen. Mehr Demonstratoren allein würden uns nicht mehr weiterhelfen, diese seien schon lange bekannt. Deutschland müsse aufpassen, nicht den Anschluss zu verlieren.

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BDI-Präsident Russwurm sagte, immer neue Zielvorgaben der Politik seien nicht hilfreich. Jetzt seien Investitionen und Entscheidungen gefragt.

Dass wir hier bereits viel Zeit verloren haben, zeigt die Tatsache, dass die deutsche „Wasserstoffgesellschaft“ erstmals vor 20 Jahren (!) ausgerufen wurde. Seitdem ist „das Wunderkind Deutschland im Klima einer zögerlichen und visionslosen Politik aufs Traurigste verkümmert“, wie Frank Schätzing in „Was, wenn wir einfach die Welt retten? – Handeln in der Klimakrise“ konstatiert.

Es ist 5 vor 12 – „Ohne Tempo werden die Träume platzen“

Dr. Martin Brudermüller, Vorsitzender des Vorstands der BASF SE, forderte angesichts des gigantischen Marktpotentials ebenfalls ein höheres Tempo und den Schulterschluss zwischen Industrie und Politik: „Deutschland ist dabei, seine Chancen zu verspielen. Ohne Tempo werden die Träume platzen.“ Dabei sei der Einsatz grünen Wasserstoffs nur ein Hebel unter vielen und „der teuerste Strom, den man sich vorstellen kann“: „Wir müssen technologieoffen bleiben.“ Hier gelte es, internationale Kooperationen einzugehen, die Wasserstoffinfrastruktur auszubauen, Genehmigungsverfahren zu beschleunigen und eine leistungsfähige Technologieförderung zu etablieren: „Wir müssen größer denken als heute.“

Das heißt auch, den Blick über Deutschland hinaus auf Europa zu richten und eine gemeinsame europäische Strategie für erneuerbare Energien zu entwickeln. Angesichts der Dynamik und Größe dieser Herkulesaufgabe bedarf es des Mutes, sich wie ein Start-up neu zu erfinden und innovative grüne Geschäftsmodelle zu entwickeln. Für die chemische Industrie gebietet das nicht zuletzt der Selbstschutz, da z. B. die arabischen Staaten perspektivisch durch die parallele Nutzung billiger fossiler Rohstoffe und einer wettbewerbsfähigen Methanpyrolyse bei atemberaubenden Erzeugungskosten unter 2 Cent pro kWh natürlich auch die gesamte Wertschöpfungskette bis hin zur eigentlichen Produktion abdecken könnten. Die Zusammenarbeit mit Partnern weltweit – von Chile über den arabischen Raum bis hin zu den afrikanischen Staaten und Australien – ist daher existentiell für Deutschland.

Prof. Reimund Neugebauer, Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft, betonte, dass bis 2030 ein Gigawattmarkt aufgebaut werden muss. Das beinhalte die Analyse des Infrastrukturbedarfs und die Erarbeitung der Netzausbaupläne ebenso wie den konsequenten Ausbau der Tankstellenstruktur oder die Etablierung der Zuliefererkette und einer wettbewerbsfähigen Elektrolysetechnologie. Die Hydrogen Labs der Megawatt-Klasse in Görlitz, Leuna und Bremerhaven setzen hier schon heute Maßstäbe. Er plädierte dafür, dass Deutschland eine führende Rolle bei der Standardisierung übernehmen müsse – „an der IT haben wir gesehen, wie schnell Boden verloren geht, wenn die Standards außen vor sind“. Für Deutschlands ökonomische Souveränität (bei der die Energie eine zentrale Rolle einnimmt) seien gemeinsame Anstrengungen von Politik, Wirtschaft und Wissenschaft nötig. Dies erfordere nicht zwangsläufig die flächendeckende Nutzung grüner Wasserstofftechnologie, sondern könne auch schrittweise über Zwischenstufen wie Erdgas erfolgen.

Radikaler Umbruch – Keine Veränderung ohne gesellschaftliche Akzeptanz

Dr.-Ing. Christian Bruch, Vorsitzender des Vorstands der Siemens Energy AG, verwies darauf, dass ein Megaprojekt dieser Größenordnung „nur mit dem Willen zur Veränderung und nur gemeinsam“ umgesetzt werden könne. Uns allen stehe ein „brutaler“, seit der Industrialisierung nie da gewesener Umbruch bevor, der das Fundament unserer Industrie und Gesellschaft grundlegend verändern wird. Contracts for Difference können hier in energieintensiven Branchen tatsächlich den Unterschied machen. Auch sei es sinnvoll, mit einer Allianz der Willigen zu beginnen. Schritt für Schritt (sei es nun dezentral und zentral organisiert, auf regionaler oder internationaler Ebene, mit grünem Wasserstoff oder ganz  pragmatisch über noch erforderliche Zwischenlösungen zur sukzessiven Dekarbonisierung) würden so auch die wirtschaftlichen Vorteile eines nachhaltigen, grünen Energiesystems einer immer breiteren Öffentlichkeit ersichtlich. Dafür ist das Thema zu komplex und erklärungsbedürftig. In einem Wahljahr gelten leider andere Prioritäten, wie ebenfalls Nico Rosberg ansprach. Die Bevölkerung müsse auch mitgenommen und für grüne Veränderungen begeistert werden.

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Dr.-Ing. Christian Bruch, Siemens Energy AG, sagte, der Gesellschaft stehe ein „brutaler“, seit der Industrialisierung nie da gewesener Umbruch bevor.

Der klima- und umweltfreundliche Mix macht es. Längst haben auch Konzerne wie BP das erkannt, die sich vom Öl- zum integrierten Energieunternehmen entwickelt haben und mit dem Lingen Green Hydrogen Project auch grenzüberschreitend (hier in einer Kooperation mit Ørsted) Vorreiter sind. Wolfgang Langhoff, Vorsitzender des Vorstands der BP Europa SE, nutzte auch die Gelegenheit, um auf einige Wermutstropfen hinzuweisen, die in der Phase des Hochlaufs eher investitionshemmend sind (z. B. Einschränkungen bei den Grünstromregelungen oder die Ausgestaltung der Umlagebegrenzung).

Dass im Hohen Norden auch im Energiebereich eine frische Brise weht, zeigte Stefan Dohler, Vorstandsvorsitzender der EWE AG. Norddeutschland (im engen Austausch mit seinen europäischen Nachbarn) sei eine „tragende Säule der Wasserstoffwirtschaft“. Pluspunkte dafür seien die bereits heute schon vorhandenen On- und Offshore-Kapazitäten mit weiterem Ausbaupotential, aber auch Standortfaktoren wie Leitungsnetz, Seehäfen, Kavernenspeicher oder attraktive Absatzmärkte in Industrie (Stahlproduktion), Logistik und Schwerlastverkehr. Stefan Dohler sprach sich ebenfalls für eine systemische Gesamtlösung aus – technologieoffen, mit einem stabilen Systemansatz und ohne die frühzeitige ausschließliche Fixierung auf grünen Wasserstoff. Die EWE AG setzt hier schon heute richtungsweisende Projekte entlang der gesamten Wertschöpfung um.

Somewhere Over the Rainbow – Champagner oder Tafelwasser?

Ob dem Wasserstoff im künftigen Energiesystem nun eine Haupt- oder Nebenrolle zukommt, ist (je nach eigener Interessenlage) heftig umstritten. Während Prof. Dr. Kemfert, Leiterin der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am DIW, betonte, dass allein grüner Wasserstoff nachhaltig, Wasserstoff knapp, kostbar und damit quasi der „Champagner unter den Energieträgern“ sei, vertrat Katherina Reiche, Vorstandsvorsitzende der Westenergie AG und Vorsitzende des Nationalen Wasserstoffrates, die Gegenmeinung, dass Wasserstoff „nicht nur etwas für besondere Anlässe“, sondern das „Tafelwasser der Energiewende“ sei. Insbesondere seine essentielle Rolle für den Wärmemarkt sei heute noch unterschätzt. Wasserstoff sei unverzichtbar für die Dekarbonisierung, er sei „nicht mehr nur eine Option, sondern ein Muss und eine conditio sine qua non“. Wenn wir den ökologisch unbedenklichen grünen Wasserstoff als vollständig risiko- und emissionsfreies Ziel definierten, wäre die Rede von den 2040er / 2050er Jahren: „Der Weg dahin wird definitiv vielfarbig sein“, so Katherina Reiche.

Claudia Kemfert, DIW, betonte, dass allein grüner Wasserstoff nachhaltig sei.

Hier spannt sich ein schillernder, nicht von allen gleichermaßen geliebter Regenbogen, dessen Farbenspektrum von schwarz (Kohle) über grau, blau und türkis (Erdgas / Methan) bis hin zu pink (Atomstrom) und gelb (Strommix) reicht. Entgegen ihrer bisherigen Positionierung zeigt sich die Bundesregierung inzwischen auch offen für blauen Wasserstoff, wie Dr. Stefan Kaufmann, MdB, Innovationsbeauftragter „Grüner Wasserstoff“ beim Bundesministerium für Bildung und Forschung, auf der Konferenz unterstrich.

Für den Hochlauf der Elektrolyseure sah Jochen Homann, Präsident der Bundesnetzagentur, übrigens vorerst keinen Regulierungsbedarf: „Diese Anlagen entstehen dort, wo genug erneuerbarer Strom vorhanden ist und Abnehmer nahe sind.“

Der Markt ist (wie bei der ebenfalls heiß diskutierten Preisfindung) auch hier das beste Regulativ. Dennoch bedarf es in der Aufbauphase einer milliardenschweren staatlichen Unterstützung, wie am zweiten Veranstaltungstag die spannende Diskussion mit Dr. Ingrid Hengster, Mitglied des Vorstands der KfW, Kristina Jeromin, Geschäftsführerin des Green and Sustainable Finance Cluster Germany, und Dr. Wiebke Lüke, Geschäftsführerin und Gründerin der WEW GmbH, zeigte. Aktuell wird noch zu viel abgewartet und taktiert, wer den entscheidenden ersten Schritt wagt.

Tempo machen und offen sein – dafür plädierte auch Patrick Cnubben, Ministerium für Wirtschaft und Klimapolitik, Regierung der Niederlande. Schon heute gäbe es in beiden Ländern spannende Zukunftsprojekte, die von der Kreativität, wirtschaftlichen Leistungskraft und Innovationsstärke der Wasserstoffindustrie zeugen – „ein bisschen schneller wäre aber schön“. Sein Rat an Deutschland: „Speed up and scale up.“ Einfach anpacken und machen also – JETZT. Mit (in jeder Hinsicht) grenzüberschreitendem Denken, einer stabil ausgebauten Infrastruktur und umfangreichen europäischen Förder- und Incentivierungsprogrammen.

* Steckbrief Dr. Anke Schäfer

(Bild: privat)

– Geb. 1971 in Rostock
– PR-Beraterin, Fachjournalistin, Redakteurin, Dozentin
– Langjährige Mitarbeit in führenden Beratungsgesellschaften und Systemhäusern
– 2007 Gründung der Dr. Schäfer PR- und Strategieberatung (Fokus: Energie- und Wasserwirtschaft, ITK-Branche, Grüne Energien)
– Abschlüsse als M. A. (Anglistik/Amerikanistik und Slawistik/Russistik), Dr. phil. (Mediensprache/Rhetorik) und Diplom-Juristin

Kontakt: info@dr-schaefer-pr.de

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