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„Ohne Flexibilisierung braucht es die vierfache Menge an Erneuerbaren Energien“

Merlin Lauenburg, Managing Director von Tibber über dynamische Tarife.
Dynamische Tarife sind in Norwegen und Schweden bereits gelebte Normalität. Merlin Lauenburg, Managing Director bei Tibber Deutschland, erläutert energie.blog-Inteview, was uns die skandinavischen Nachbarn bereits voraus haben und wie dynamische Tarife auch in Deutschland funktionieren können. (Bild: © Chris Marxen)

„Dynamische Tarife sind keine Spinnerei“

Lässt sich Strom in zehn Jahren nahezu kostenfrei nutzen? Tibber Deutschland verzichtet schon jetzt bei seinen Neukunden mit E-Auto und PV-Anlage auf die Grundgebühr. Wie sich das rentabel umsetzen lässt und wie in Deutschland die Dynamisierung von Tarifen und Netzentgelten gelingen kann, erklärt Merlin Lauenburg, Managing Director bei Tibber Deutschland im Interview mit energie.blog. Deutlich wird, dass uns die skandinavischen Länder hier einiges voraus haben und bereits zeigen, wie der Rollout inteligenter Messsysteme in der Praxis funktioniert. Den aktuellen Referentenentwurf zum Messstellenbetriebsgesetz bewertet Lauenburg daher auch als Rückschritt.

e.b.: Herr Lauenburg, sie sagten kürzlich, dass Strom in zehn Jahren für Haushaltskunden nichts mehr kosten wird. Wie soll das funktionieren?

Merlin Lauenburg: Das ist eine Tendenz, die wir aktuell wahrnehmen. Und, das muss man natürlich auch klar sagen: Diese Feststellung gilt nicht für alle Kunden, sondern nur für diejenigen, die das entsprechende Setup besitzen. Sprich, Menschen mit steuerbaren Verbrauchseinrichtungen, also E-Ladestationen, Batteriespeicher und Wärmepumpen – im besten Fall zusätzlich noch mit PV.

Für diese Kunden ist durch ihre Eigenproduktion der Strom ohnehin günstiger. Mit der zusätzlichen Dynamisierung, die jetzt bei den Tarifen und den Netzentgelten hinzukommt, gibt es weitere Einsparpotenziale. Denn selbst diejenigen, die keine physische PV-Anlage besitzen, können über eine virtuelle PV-Anlage, wie wir das nennen, von der Energieproduktion durch Erneuerbare profitieren. So lassen sich die Stromkosten nochmals senken.

e.b.: Virtuelle PV-Anlage? Was ist damit gemeint?

Merlin Lauenburg: PV-Anlagen sind aus unterschiedlichen Gründen nicht für jeden verfügbar. Dazu gehört zum Beispiel ein verschattetes Dach oder mangelndes Kapital, um sich eine solche Anlage leisten zu können. Wir finden aber, dass sich mit der Dynamisierung der Netzentgelte extreme Spreads auftun, wie zum Beispiel beim Verteilnetzbetreiber Mitnetz – dort beträgt der Unterschied vom Standard zum Niedrigtarif 8 Cent. So können auch „normalen“ Kundinnen und Kunden von der Verschiebung von Lasten profitieren und somit indirekt auch die Vorteile der erneuerbaren Energien für sich beanspruchen. Das ist dann in gewisser Weise wie eine virtuelle PV-Anlage.

Blick über Deutschland hinaus

e.b.: Aktuell steckt die Dynamisierung von Tarifen und Netzentgelten in Deutschland ja eher in den Kinderschuhen. Was macht Sie so sicher, dass das Konzept funktioniert?

Merlin Lauenburg: Diese Erfahrungen bringen wir aus unseren Heimatmärkten Norwegen und Schweden mit, wo wir nahezu einen Vollrollout haben. Die überwiegende Mehrheit der Menschen nutzt dort dynamische Tarife. In den beiden Ländern haben wir daher die sogenannten Grid Awards für unsere Kundinnen und Kunden gelauncht. Mit dieser „Netzbelohnung“ werden sie für das Bereitstellen von Flexibilität finanziell entlohnt. So können sie mit ihren steuerbaren Verbrauchseinrichtungen nochmals zusätzlich Geld verdienen.

Gleichzeitig sehen wir eine Reduzierung der Kosten für Batteriespeicher. Laut Goldmann Sachs sollen sich die Preise für diese bis 2026 nochmals halbieren und die Kosten dafür werden sich damit noch schneller amortisieren. Flexibilisierung vermarkten zu lassen, hat zwar keinen Einfluss auf den Strompreis, aber wir sehen den Trend zu einer deutlichen Reduzierung der Stromkosten. Und bei denjenigen, die steuerbare Verbrauchseinrichtungen einsetzen, werden sich diese auf nahezu null Euro verringern.

„Wir bei Tibber Deutschland können zeigen, dass dynamische Tarife keine Spinnerei sind, weil sie in Märkten wie Norwegen, und Schweden bereits großflächig Realität sind.“

e.b.: Sie haben ja Vergleichswerte, wie sieht es denn in den skandinavischen Ländern aus beim Thema Smart Meter?

Merlin Lauenburg: Sowohl in Norwegen als auch in Schweden bezieht die überwiegende Anzahl an Menschen dynamische Tarife. In Norwegen sind es sogar 93 Prozent der Menschen, die einen stündlich dynamischen Tarif besitzen. Nachzulesen im jüngst erschienenen Acer-Bericht. Die Abdeckung in Norwegen mit Smart Metern liegt bei nahezu 100 Prozent. Natürlich sind die Voraussetzungen dort anders. Dort beträgt die Erneuerbaren-Rate an der Stromproduktion fast 100 Prozent, vor allem durch Energie aus Wasserkraft. Wir bei Tibber Deutschland können dadurch zeigen, dass dynamische Tarife keine Spinnerei sind, weil sie in Märkten wie Norwegen, und Schweden bereits großflächig Realität sind.

e.b.: Noch fehlen diese Möglichkeiten zur Flexibilisierung in Deutschland. Was müsste sich hier ändern?

Merlin Lauenburg: Für uns ist eines der wichtigsten Themen der Smart Meter-Rollout. Deutschland macht zwar zum einen deutliche Fortschritte beim Ausbau der Erneuerbaren, auf die wir auch stolz sein können. Das Ziel von 13 Gigawatt PV-Ausbau pro Jahr werden wir erreichen – inzwischen sind schon 11 bis 12 Gigawatt PV installiert. Zusätzlich haben wir vergangenes Jahr das erste Mal über 50 Prozent Erneuerbare für die Stromversorgung nutzen können, auch das ist ein Meilenstein.
Zum anderen fehlt uns jedoch die Infrastruktur, insbesondere die Zähler-Infrastruktur. Unsere Erfahrung aus den skandinavischen Ländern ist, wenn wir nicht jetzt anfangen, haushaltsnahe Flexibilität entscheidend zu fördern, dann brauchen wir ein Vielfaches an erneuerbaren Energien, um unseren Bedarf zu jeder Tageszeit abzudecken. Wir gehen davon aus, dass ohne Flexibilisierung in etwa die vierfache Menge an erneuerbaren Energien benötigt würde, um den Verbrauch zu jeder Tageszeit abzudecken. Genau deswegen haben wir die Smart-Meter-Initiative mit Octopus Energy, Rabot Energy und Ostrom gegründet. Dazu kommen zahlreiche Unterstützer der Initiative von 1KOMMA5 bis Lichtblick. Inzwischen sind wir auf 20 Mitglieder angewachsen.

Schnellerer Rollout gewünscht

e.b.: Sie setzen sich in der Initiative für einen schnelleren Rollout von Smart Metern ein. Wie lässt sich das bewerkstelligen?

Merlin Lauenburg: Wir glauben unter anderem, dass man im Rahmen des Smart Meter Rollouts darüber sprechen sollte, brauchen wir wirklich die intelligenten Messsysteme im jetzigen Umfang? Oder würde es aktuell für alle innovativen Geschäftsmodelle, die jetzt aufkommen, nicht reichen, einfach erst einmal digitale Zähler mit einer granularen Übertragung von Messdaten (TAF7) einzusetzen. Das würde schon genügen, um zeitvariable Tarife in die Breite zu bringen. Hier unterstützen wir auch die Initiative Simplify Smart Metering von Marcel Linnemann und Gerhard Radtke. Sie merken schon, das Thema Smart Meter liegt uns sehr am Herzen und für uns ist das das zentrale Thema.

e.b.: Ist es nicht auch allgemein sehr schwierig, die gewünschte Flexibilisierung technisch umzusetzen?

Merlin Lauenburg: Grundvoraussetzung für Smart Grids ist eine Digitalisierung der Infrastruktur. Und es geht ja nicht nur um Effizienzgewinne für einzelne Kundinnen und Kunden, sondern um die gesamte Gesellschaft. Je mehr Menschen ihren Verbrauch flexibilisieren, desto stärker sinken auch die Lastspitzen, so dass sich die Kosten für alle reduzieren würden. Dass das funktioniert, zeigen auch Studien von Agora Energiewende und Neon Neue Energieökonomie. Im Grunde genommen haben wir nur drei Möglichkeiten, um den wachsenden Zubau von erneuerbaren Energien in Griff zu bekommen: Netzausbau, Speicherung und Flexibilisierung. Von diesen drei Optionen ist Flexibilisierung immer die günstigste und kommt aus unserer Sicht auch ohne Komforteinbußen aus.

„Wir wollen ein Signal für nachhaltige Mobilität setzen.“

e.b.: Tibber hat aktuell ja auch ein besonderes Angebot: Ihre Neukunden mit E-Auto und PV-Anlage müssen drei Jahre keine Grundgebühr bezahlen. Rentiert sich das denn?

Merlin Lauenburg: Wir verdienen bei Tibber kein Geld mit dem Verkauf von Strom, sondern reichen die Stromkosten und variablen Kosten für die Beschaffung 1 zu 1 an unsere Kunden weiter. Schon hier werden wir oft gefragt, wie wir unser Geld verdienen. Unser Geschäftsmodell steht auf drei Säulen: Einmal verlangen wir wie andere Energieversorger auch eine Grundgebühr. Bei uns sind das 5,99 Euro. Hinzu kommt der Tibber-Store, in dem wir Produkte von Herstellern verkaufen die bereits mit unserer Tibber-App integriert sind und über die wir eine automatisierte Lastverschiebung zum Beispiel beim Smart Charging mit Wallboxen ermöglichen. Als drittes wollen wir in Zukunft analog zu unseren anderen Märktenunser virtuelles Kraftwerk monetarisieren. Einen Teil dieser Umsätze wiederum geben wir an unsere Kundinnen und Kunden weiter. In Deutschland ist unser virtuellen Kraftwerk noch nicht verfügbar, es wird jedoch voraussichtlich in der ersten Jahreshälfte 2025 kommen.

Zurück zur Grundgebühr und warum wir sie streichen: Wir sehen, dass der E-Automarkt aktuell schwächelt, er ist derzeit 30 Prozent unter dem Plan. Wir wollen daher ein Signal für nachhaltige Mobilität setzen. Schließlich wollen wir langfristig – und darauf basiert unser Geschäftsmodell – ein virtuelles Kraftwerk mit sehr günstigen Konditionen durch den Zusammenschluss aller steuerbaren Verbrauchseinrichtungen unserer Kundinnen und Kunden etablieren.

Diskussionen sind viel zu technisch

e.b.: Sie hatten unlängst eine Umfrage zum Thema Smart Metering von YouGov durchführen lassen. Dabei kam heraus, dass 70 Prozent der Befragten mit dem Begriff Smart Meter nichts anfangen konnten. Was heißt das für die Branche?

Merlin Lauenburg: Wir führen in unserer Bubble so viele Diskussionen über zeitvariable Netzentgelte und Smart Meter, die über diesen Kreis hinaus jedoch schwer zugänglich sind – vor allem für Verbraucherinnen und Verbraucher. Viele, die sich mit dem Thema aus unserer Branche beschäftigen, sind außerdem inzwischen ermüdet, weil sich der Rollout so sehr zieht. Dazu gehört auch der Begriff virtuelles Kraftwerk, das ist ja sehr abstrakt. Die Diskussionen sind allesamt sehr technisch, aber sie müssten sich viel mehr an den Mehrwerten für Verbraucherinnen und Verbraucher orientieren. Auch die Politik sollte viel mehr darüber informieren, was diese Smart Meter eigentlich sind und warum wir sie brauchen. Das ist übrigens ein weiteres Anliegen unserer Smart Meter Initiative.

„Die geplanten Änderungen sind ein großer Rückschritt. Der Einbau von Smart Metern auf Kundenwunsch wird teurer und deutlich geschwächt – das ist sozial ungerecht und kostet weiter wichtige Akzeptanz für den Rollout.“

e.b.: Last  but not least: Der Referentenentwurf für das Messstellenbetriebsgesetz ist aktuell sehr umstritten. Wie bewerten Sie das Papier?

Merlin Lauenburg: Die geplanten Änderungen sind ein großer Rückschritt. Der Einbau von Smart Metern auf Kundenwunsch wird teurer und deutlich geschwächt – das ist sozial ungerecht und kostet weiter wichtige Akzeptanz für den Rollout. In unseren skandinavischen Heimmärkten sehen wir wie eine breite Abdeckung intelligenter Messsysteme innovative Geschäftsmodelle rund um Flexibilität befördert. Diese Chance und die damit einhergehenden enormen Kosteneinsparungen für unser Energiesystem, drohen wir in Deutschland weiter zu verspielen.

 

e.b: Merlin Lauenburg vielen Dank für das Gespräch.

 

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