„Die Ressourcen für eine parallele Abarbeitung aller Anforderungen sind kurzfristig nicht verfügbar“
Bis Ende 2025 müssen Messstellenbetreiber 20 % ihrer Messstellen mit intelligenten Messsystemen ausstatten, jedoch haben viele grundzuständige Messstellenbetreiber (gMSB) ihren Rollout noch nicht hochgefahren. Die komplexen und sich ständig ändernden regulatorischen Vorgaben sowie die Einführung neuer Prozesse und IT-Systeme stellen für viele Energieversorger beim Thema Smart Meter erhebliche Herausforderungen dar. Zusätzliche Anforderungen bringt das Steuern per Steuerbox mit sich – gleichzeitig gerät das Stromnetz mit dem zunehmenden Ausbau von Photovoltaikanlagen zunehmend an seine Belastungsgrenze. Hier wird in den kommenden Tagen eine Änderung seitens des Bundeswirtschaftsministeriums erwartet. Eine Novellierung steht zudem beim Gesetz zum Neustart der Digitalisierung der Energiewende (GNDEW) an. Wie sie die genannten Entwicklungen einschätzen, erläutern Frank Hirschi und Tobias Linnenberg, beide Manager des Beratungsunternehmens HORIZONTE-Group, im energie.blog-Interview. Thema sind dabei auch die Einführung dynamischer Tarife und das Steuern mittels digitaler Schnittstelle.
e.b: Frank Hirschi, wie bewertest Du den Messstellenbetrieb aktuell? Was sind gerade die drängendsten Baustellen beim Thema Smart Meter?
Frank Hirschi: Der verpflichtende Smart-Meter-Rollout schreibt vor, dass bis Ende des Jahres 2025 Messstellenbetreiber (MSB) 20 % ihrer Messstellen mit intelligenten Messsystemen (iMSys) ausgestattet haben müssen. Wie aber der Digitalisierungsbericht gem. §48 MsbG sowie auch unsere ‚Technische Studie Metering gMSB‘ aufgezeigt haben, stecken die grundzuständigen Messstellenbetreiber oft noch nicht im Rollout-Hochlauf. Gründe hierfür sind auf der einen Seite eine hohe Komplexität und zunehmende Volatilität regulatorischer Vorgaben an Prozesse, IT-Systeme und Hardware sowie ein eng gestecktes Kostenkorsett auf Basis der gesetzlich vorgeschriebenen Preisobergrenzen.
Die Parallelität von immer mehr umzusetzenden Projekten bringt Energieversorgungsunternehmen und ihre Mitarbeitenden an ihre Grenzen. Auch die Dienstleister, wie bspw. IT-Entwickler*innen, die bestehende Software-Lösungen immer wieder an neue Prozesse anpassen müssen, haben keine Kapazitäten mehr und stellen somit wiederum Flaschenhälse für Energieversorger dar.
Steuern per Steuerbox: Umbrüche in der Gesamtarchitektur zu erwarten
e.b: Tobias Linnenberg, das Steuern per Steuerbox steckt aktuell noch in den Kinderschuhen, wie wichtig war jetzt die Zertifizierung der ersten Steuerbox?
Tobias Linnenberg: Die Zertifizierung wurde von der Branche bereits seit längerem erwartet. Weitere Geräte sollen in den nächsten Wochen folgen. Anfang kommenden Jahres sollen dann die ersten Steuerboxen mit digitaler Schnittstelle den Segen des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) erhalten. Hierauf hatten sich die Verantwortlichen bereits eingestellt und werden nun mit der Beschaffung der Geräte beginnen.
Die Hardware ist jedoch nur ein kleiner Mosaikstein im gesamten Bild. Die Logistik, Montage und insbesondere die Parametrierung, Verwaltung und der Betrieb dieser Assets ist die wesentlich größere Herausforderung. Hierfür muss das Gros der IT-Systeme der MSB und Verteilnetzbetreiber (VNB) angepasst, und neue Systeme wie beispielsweise der Steuerbox-Admin, also das CLS-Management-System oder das Niederspannungscockpit, etabliert werden. Bestandsdatenführende Systeme wie die eingesetzten ERP-Lösungen, Geoinformationssysteme oder Anlagendatenbanken müssen damit verknüpft werden. Dies führt zum Teil zu Umbrüchen in der Gesamtarchitektur und sehr umfangreichen Projekten, wie dem Aufbau eines unternehmensweiten Data-Lakes. Diese IT-Projekte sind wahre Langläufer und werden in den meisten Fällen die wachsenden Lieferzeiten der Steuerboxen um Jahre übersteigen.
e.b: Wann erwartest Du in diesem Bereich mehr Tempo?
Tobias Linnenberg: Mein Vater pflegt in solchen Situationen mit der folgenden Frage zu antworten: Möchtest Du eine ehrliche oder eine höfliche Antwort? Scherz beiseite. Hier die ehrliche Version: Aktuell nehmen wir in der Branche ein vermeintliches Gefühl der Sicherheit wahr, welches wir nicht uneingeschränkt teilen. Es scheint die Hoffnung vorzuherrschen, dass die Netze das schon schultern können. Man sehe ja, dass die Verkaufszahlen der E-Fahrzeuge und Wärmepumpen einbreche. Auf der anderen Seite führt der ungebremste PV-Zubau zu zunehmenden Herausforderungen. Wir erwarten diesbezüglich in den kommenden Tagen Neuigkeiten aus dem Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) und sind gespannt, wie die Regelungen angepasst werden.
Sollten sich die Gerüchte um eine Absenkung der Schwelle für die Direktvermarktung bewahrheiten, würde dies den Druck jedoch enorm erhöhen. Der Rollout von intelligenten Messsystemen und Steuerboxen müsste dann weiter priorisiert werden. Die Frage welche sich dann jedoch stellt ist: Was kann man im Gegenzug liegen lassen? Denn eines ist klar: Die Ressourcen für eine parallele Abarbeitung aller Anforderungen sind nicht kurzfristig verfügbar. Die Stadtwerke müssen somit die Anforderungen wählen, welche sie bewusst nicht erfüllen werden.
Digitale Schnittstelle: Noch einige Hürden in der Praxis
e.b: Wie positioniert ihr euch zur Steuerung mittels digitaler Schnittstelle?
Tobias Linnenberg: Wir sehen grundsätzlich enorme Vorteile in der Nutzung einer digitalen Schnittstelle. Aus Sicht des Endkunden ist die größte Errungenschaft, Sollwerte zu übermitteln anstatt stets auf einen vordefinierten, minimalen, Setpoint zu „dimmen“. Für die Messstellenbetreiber und Verteilnetzbetreiber steigt die Sicherheit, da die Kundenanlage direkt Feedback über die Erfüllbarkeit des Steuerbefehls geben kann. Und es ist wesentlich unkomplizierter 1:n-Konstrukte aufzubauen.
Soweit zur Theorie.
In der Praxis gibt es jedoch noch einige Hürden. Zunächst steht hier der Anpassungsbedarf in den Backendsystemen. Die Speicherung und Kommunikation von Schlüsseln, die Zuordnung zu den bestehenden Stammdaten, die Ausprägung der, noch zu definierenden, Protokolle – all das wird zwar in Forschungsprojekten bereits erprobt, ist jedoch noch lange nicht reif für die Produktion.
Hinzu kommen sehr spezifische prozessuale Stolpersteine, welche beim strategischen Blick auf das Thema übersehen werden. So ist beispielsweise der Pairing-Prozess mit dem Smart-Meter-Gateway (SMGw) noch nicht massenmarkttauglich ausgeprägt. Hierfür müssen noch praxistaugliche Lösungen entwickelt werden.
Erweitert man das Themenfeld dann noch auf das Schalten aus dem Smart-Meter-Gateway, kommen aktuell vorgesehene Protokoll-Inkompatibilitäten, die vom BSI angedachte Zertifizierung der Endgeräte, sowie ebenfalls enorme Umbaubedarfe in den Gateway-Administrations-Systemen hinzu.
Der Steuerung mittels digitaler Schnittstelle gehört somit sicherlich die Zukunft, vermutlich aber eher am mittel- bis langfristigem Horizont. Nach unserem Dafürhalten werden wir daher kurzfristig mittels potentialfreier Kontakte schalten müssen – auch wenn dies im Kontext einer der größten Digitalisierungsoffensiven unserer Wirtschaft etwas anachronistisch anmutet.
Dynamische Tarife: Start am 1. Januar
e.b: Wird die Einführung dynamischer Tarife erfolgreich gelingen?
Frank Hirschi: Alle Stromversorger müssen ab dem 1. Januar 2025 dynamische Tarife in ihrem Portfolio integriert haben. Sofern Kund*innen das dafür notwendige intelligente Messsystem noch nicht haben, dürfen sie den Einbau eines intelligenten Messsystems verlangen. Viele Energieversorger stellt das jedoch noch vor Herausforderungen. Insbesondere umfassende Anpassungen in den IT-Systemen für eine zeitreihenbasierten Abrechnung via Börsenpreis werden zum Stichtag vermutlich nicht bei allen Energieversorgern umgesetzt sein.
Da auch Portale oder Apps zur Visualisierung für eine gute Kundenerfahrung notwendig sind, werden einige Versorger auf White-Label-Lösungen zurückgreifen, um handlungsfähig zu sein. In einigen Netzgebieten wird jedoch auch ein intelligentes Messsystem nicht sofort auf Kundenwunsch verfügbar sein. Es bleibt aber erst einmal abzuwarten, wie viele Kund*innen wirklich Interesse an einem dynamischen Tarif haben und dann von ihren Lieferanten oder grundzuständigen Messstellenbetreiber vorerst enttäuscht werden.
metering days: Zeitnahe Veröffentlichung des GNDEW-Referentenentwurfs erwartet
e.b: Welche Impulse sind von den metering days und der Politik zu erwarten?
Frank Hirschi: Obschon das Gesetz zur Digitalisierung der Energiewende (GDEW) bereits einen „Neustart“ erfahren hat, steht eine weitere Novellierung bevor. Die Branche geht davon aus, dass das Bundeswirtschaftsministerium zeitnah einen Referentenentwurf veröffentlichen wird. Vielleicht nennen wir es erst einmal das „Gesetz zum überarbeiteten Neustart der Digitalisierung der Energiewende“ (GüNDEW).
Im Kern soll auf der einen Seite die Komplexität an Vorgaben für grundzuständige Messstellenbetreiber nicht erhöht und bestenfalls sogar reduziert werden. Auf der anderen Seite soll der grundzuständige Messstellenbetreiber aber verstärkt die Rolle als Infrastrukturbetreiber und Gesamtverantwortlicher annehmen, der dafür sorgt, dass alle notwendigen Mess- und Steurungs-Geräte verbaut sind und betrieben werden können. Damit dies realisiert werden kann, muss der aktuell defizitäre Rollout im grundzuständigen Messstellenbetrieb auf eine wirtschaftlich robustere Basis gestellt werden.
So will das Bundeswirtschaftsministerium insbesondere die Preisobergrenzen erhöhen. In Fulda wird auf den metering days mit Sicherheit viel über die politischen Weichenstellungen für die Skalierung des Rollouts geredet werden. Ein nicht unerheblicher Anteil an grundzuständigen Messstellenbetreibern hat jedoch immer noch nicht mit dem Rollout intelligenter Messsysteme begonnen, obwohl bereits das Thema Steuern in der Niederspannung umzusetzen ist. Inwiefern das „GüNDEW“ diesen grundzuständigen Messstellenbetreibern Pfade aufzeigt, um ihre Rolloutquoten zu erreichen, bspw. über Kooperationen untereinander, bleibt abzuwarten. Darüber hinaus werden aber technisch insbesondere die CLS-Themen Gesprächsstoff bieten. Sowohl was durch das BSI zertifizierte Hardware, als auch was Prozesse und IT angeht.
e.b: Frank Hirschi, Tobias Linnenberg, vielen Dank für das Gespräch.