„Wasserstoff wird für die Speicherung von überschüssigem Grünstrom voraussichtlich keine wesentliche Rolle spielen“
Bevor man mit dem Aufbau einer „Wasserstoffwirtschaft“ beginnt sollte ernsthaft prüfen, ob sich die Zukunft nicht besser mit einer „Elektronenwirtschaft“ gestalten lässt, sagt Dr. Ulf Bossel. Denn seiner Meinung nach wird eine auf künstlich erzeugtem Wasserstoff basierende „Wasserstoffwirtschaft“, mit der die existierende, für fossile Energieträger geschaffene Energietechnik gerettet werden soll, wegen ihrer miserablen Energiebilanz scheitern. Ein Kommentar
Am Anfang steht die Energiequelle
Die sich häufenden Umweltkatastrophen manifestieren eine Klimaerwärmung durch das bei der Verbrennung von Kohle, Erdöl und Erdgas freigesetzte Kohlendioxyd. Die Menschheit muss umgehend von den fossilen Brennstoffen auf CO2-freie Energie aus nachhaltigen Quellen umsteigen. Die mit PV-Anlagen, Wind- und Wasserkraftwerken geerntete elektrische Energie wird zur Leitwährung der Energieversorgung. Die Energie des „Grünstroms“ kann in physikalischer Form mit Elektronen direkt oder auch auf Umwegen in chemischer Form mit Wasserstoff verteilt werden. Bevor man mit dem Aufbau einer „Wasserstoffwirtschaft“ beginnt sollte ernsthaft prüfen, ob sich die Zukunft nicht besser mit einer „Elektronenwirtschaft“ gestalten lässt. Für beide Optionen dient Grünstrom als primäre Energiequelle.
Im historischen Rückblick ist für jede Primärenergie immer die passende Technik entwickelte worden. Kohle führte zur Erfindung der Dampfmaschine, Erdöl zum Verbrennungsmotor und Erdgas zum Gasherd. Im 19. Jahrhundert wurden die chemischen Energieträger zum festen Bestandteil der Energieversorgung. Die rotierenden Kurbelwellen der Dampfmaschinen wurden bald zum Antrieb elektrischer Generatore eingesetzt, um für den Endbereich nützlichen Strom zu erzeugen. Diese physikalische Energie liess sich auch direkt mit rotierenden Wassermühlen generieren. Später lieferte Uran die Wärme für Dampfturbinen. Zur physikalischen Energie der Wasserkraft ist jetzt die Energieernte von Sonne und Wind hinzu gekommen. Alle physikalischen Energiequellen zusammen konnten die Dominanz der fossilen Energieträger bisher nicht brechen. Zur Rettung des Klimas müssen wir uns jetzt aber schnellstens von den fossilen Brennstoffen verabschieden. Die Energiezukunft muss mit physikalischen Energieträgern gestaltete werden. CO2-freien „Grünstrom“ kann man von Sonne, Wind und Fliesswasser ernten. Die für Grünstrom benötigte Technik ist vorhanden. Das bereits bestehende Stromnetz müsste lediglich bedarfsgerecht ausgebaut werden. Auch diesmal bestimmt die Primärenergie die Gestaltung des Energiesystems. Die chemischen, fossilen Energieträger werden durch den physikalischen Energieträger Grünstrom ersetzt. Die treibende Kraft für die Energiewende ist also der Wechsel zu CO2-freier Primärenergie und damit verbunden von chemischer zu physikalischer Energieübertragung. Das bestehende Energiesystem kann mit dem künstlich hergestellten chemischen Energieträger Wasserstoff nicht gerettet werden.
Ursache für die Zunahme schwerer Unwetterkatstrophen ist die globale Aufheizung der Atmosphäre durch menschengemachte Abgase. Das bei Verbrennung von Kohle, Erdöl und Gas freigesetzte Kohlendioxid ist mitverantwortlich für die bereits messbare Aufheizung des Klimas. Die Energiezukunft muss also ohne fossile chemische Energieträger gestaltet werden. Ein Ausbau der Stromernte aus erneuerbaren Quellen ist das Gebot der Stunde. In allen bewohnten Regionen der Welt lässt sich „Grünstrom“ von Sonne, Wind und Wasserkraft CO2-frei ernten. Grünstrom wird zur dominierenden Basis einer als „Elektronenwirtschaft“ bezeichneten Energieversorgung, in der auch die vorwiegend im Sommer geerntete und für den Winter gespeicherte Biomasse eine wichtige Rolle spielen wird. Auch diesmal wird sich das Energiesystem an das nachhaltige und CO2-freie geerntete Energieangebot anpassen. Grünstrom und die Elektronenwirtschaft übernehmen die Regie im Energiebereich.
Grünstrom ist besser als Wasserstoff
Eine auf künstlich erzeugtem Wasserstoff basierende „Wasserstoffwirtschaft“, mit der die existierende, für fossile Energieträger geschaffene Energietechnik gerettet werden soll, wird wegen ihrer miserablen Energiebilanz scheitern. Weshalb sollte man die mit Grünstrom geerntete Energie mit viel Aufwand in Wasserstoff stecken, den man komprimieren (oder verflüssigen?), umfüllen, transportieren, speichern und für die Nutzung wieder in Strom verwandeln muss? Man kann die Elektronen des grünen Primärstroms auch direkt über bestehende Leitungen zum Verbraucher leiten. Der Gesamtwirkungsgrad der Energielieferung mit Wasserstoff liegt unter 20%.
Mit Grünstrom können jedoch 80% zum Verbraucher gelangen. Mit einer gegebenen Menge Grünstrom kann man vier Autos elektrisch, aber nur eins mit Wasserstoff betreiben. Man kann nur ein Gebäude mit Wasserstoff beheizen, aber drei elektrisch und neun mit Wärmepumpe. Für alle energetischen Anwendungen ist die direkte Verteilung von Grünstrom wesentlich sinnvoller als die indirekte Energielieferung mit Wasserstoff. Der künstlich erzeugte Energieträger kann nur bei chemischen Anwendungen punkten, wenn er kohlenstoffhaltige Reduktionsmittel ersetzt.
Entwicklungen in der Praxis
Bevor man mit dem Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft beginnt sollte man die sich abzeichnenden Entwicklungen erkennen und vorschauend berücksichtigen.
- Die photovoltaische Stromernte ist nicht mehr zu bremsen. Der lokal benötigt Strom wird vor Ort mit PV-Anlagen geerntet, gespeichert und genutzt. Da direkt genutzter Grünstroms geringere Kosten verursacht als der über das Netz gelieferte, wird Grünstrom zur Basisenergie im Endbereich der Energienutzung. Im Transportbereich werden Verbrenner durch Stromer und in Wohnbereich Heizkessel durch Wärmepumpen ersetzt. Wasserstoff wird kaum noch benötigt, weder für die Gebäudeheizung noch für die Stromerzeugung mit Brennstoffzellen.
- Im Mobilitätsbereich ist das Scheitern der mit Wasserstoff betriebenen Fahrzeuge bereits erkennbar. Batterie-elektrische Antriebe setzen sich bei allen Fahrzeugklassen durch.
- Dieser Verdrängungsprozess ist verbunden mit der Entwicklung leistungsfähiger Batterien für Elektromobile. Die Fahrzeugbatterien müssen nach einigen Jahren durch neue ersetzt werden, weil sie die für den Fahrbetrieb benötige Leistung nicht mehr erbringen. Für den stationären Einsatz sind sie jedoch noch für lange Zeit brauchbar. Schon bald werden rezyklierte Li-Ionen-Akkus für den stationären Einsatz in Gebäuden erhältlich sein.
- Zukünftig werden Fertigungsprozesse nicht mehr mit Erdgas, sondern elektrisch aufgeheizt. Bei Reduktionsprozessen wird Wasserstoff erst zugeführt, wenn die Reaktionstemperatur erreicht ist. Der dafür benötigte Wasserstoff wird vor Ort elektrolytisch erzeugt.
- Vor dem Wechsel vom Heizkessel zur Wärmepumpe sollten Gebäude unbedingt thermisch saniert werden. Andernfalls droht ein Strommangel an kalten Wintertagen.
Elektronenwirtschaft
Diese physikalisch begründeten Erkenntnisse haben die Politik noch nicht erreicht. Der Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft wird gefördert, weil es der Wasserstoffbeirat so empfohlen hat, dessen Mitglieder in irgendeiner Weise beruflich mit der Entwicklung einer Wasserstoffwirtschaft verbunden sind. Man sollte auf unabhängige Energieberater hören, die nicht als befangen gelten können.
Grünstrom, also die mit Hilfe von PV-Anlagen, Windkraftwerken und Wasserturbinen in elektrischer Form geerntete physikalische Energie, wird aufgrund wirtschaftlicher Vorteile auch ohne staatliche Förderung zur Basis einer strombasierten Energieversorgung, also einer „Elektronenwirtschaft“. Der Begriff steht gleichwertig neben dem Begriff „Wasserstoffwirtschaft“. Energie wird in physikalischer Form mit Elektronen und nicht in chemischer Form mit Wasserstoff transportiert. Das Wort steht für eine Kette physikalischer Prozesse und sollte nicht verwechselt werden mit dem kaufmännisch geprägten Begriff Elektrizitätswirtschaft.
Höhere Effizienz
Hier nun die wesentlichen Merkmale der Elektronenwirtschaft. Als Energieträger dienen Elektronen. In der Elektronenwirtschaft wird der Grünstrom direkt und mit hoher Effizienz (≈ 80%) zum Verbraucher geleitet. Wenn aber Wasserstoff für den Energietransport von Grünstrom eingesetzt wird, sind nur geringe Mengen der Ursprungsenergie noch nutzbar. Der Grünstrom kann über ein bereits bestehendes Stromnetz verteilt werden, das mit bewährten Technik bedarfsgerecht ertüchtig werden muss.
Für Wasserstoff wird man eine neue Infrastruktur schaffen müssen, denn das bestehende Gasnetz und viele der erforderlichen Komponenten eignen sich nicht für den Betrieb mit Wasserstoff. Erdgas ist nicht Wasserstoff. So kann man im gleichen Rohr mit Erdgas dreimal mehr Energie transportieren als mit Wasserstoff. Im Strassenverkehr hält Grünstrom bereits Einzug.
Aufgrund ihrer physikalischen und finanziellen Vorteile und vom Markt getrieben wird sich die Elektronenwirtschaft im gesamten Energiebereich durchsetzen. Schon bald wird man erkennen, dass die geplante Infrastruktur für Wasserstoff überdimensioniert, oder gar nicht benötigt wird. Sie wird für heutige Energieflüsse geplant, die zum Zeitpunkt der Inbetriebnahme alle Vorausicht nach nicht mehr realistisch sein werden. In Zukunft wird man Grünstrom direkt und hocheffizient über elektrische Leitungen verteilen.
Stromspeicherung mit Wasserstoff?
Immer wieder wird Wasserstoff als Stromspeicher empfohlen. Mit überschüssigem Grünstrom soll Wasserstoff erzeugt werden, den man bei Bedarf wieder in Strom verwandelt. Die Idee ist gut, aber nicht zu Ende gedacht. Bei umsichtigem Strommanagement können mit der Wasserstofferzeugung nur die Stromspitzen abgebaut werden, die nicht planbar bei guter Einstrahlung oder heftigen Winden auftreten. Gerade ist in Schleswig-Holstein ein Projekt zu Wasserstofferzeugung mit nicht genutztem Grünstrom gestoppt worden, weil sich die Investition nicht rechnet, denn noch nicht einmal 10% der Stromernte stehen für die Wasserstofferzeugung zur Verfügung.
Die mit Grünstrom gelieferte Energie kann im Endbereich vorwiegend als Strom, Wärme oder für Grossabnehmer in Pumpspeichern gelagert werden. Im Endbereich liefern PV-Anlagen Gleichstrom, der ohne Spannungswandlung in Batterien gespeichert oder direkt genutzt werden kann. Wechselstrom wird nur bedarfsgerecht erzeugt. Die verbrauchernahe Gleichstromernte mit Solarpanels auf dem Dach wird zur dezentralen Stromspeicherung und zu Gleichstromsystemen führen. Im Endbereich sind innovative Entwicklungen zu erwarten.
Bioenergie als Schlüssel
Das Problem der saisonalen Speicherung lässt sich nur mit einem intelligenten Management der im Sommer anfallenden Bioenergie lösen. Statt Biogas direkt zu verstromen, sollte man es für die Nutzung Winter speichern. Auch Holz und andere brennbaren Stoffe sollten für die Nutzung im Winter gelagert werden. Im Sommer sollte man den reichlich anfallenden Grünstrom direkt nutzen und nicht versuchen, daraus Wasserstoff zu machen, für den dreimal grössere Speicher benötigt werden als für Biogas. In der Elektronenwirtschaft wird man das saisonale Speicherproblem durch ein intelligentes Management der Biomasse lösen müssen. Die zukünftige Rolle von Wasserstoff als Speichermedium sollte deshalb unbedingt noch einmal gründlich überdacht werden.
Siegeszug der Elektronenwirtschaft
Die hier geäusserten Bedenken werden mit physikalischer Begründung auch von anderen Fachleuten vorgetragen. Die Politik muss unabhängig handeln. Sie muss zuerst den Aufbau einer CO2-freien Energiezukunft zum nationalen Ziel erklären und dann mit geeigneten Massnahmen den Aufbau einer gesicherten Versorgung ermöglichen. Unabhängige Fachleute können dabei als unbefangene Berater dienen. Die satzungsgemässen Ziele ideeller Vereine liefern keine physikalisch begründete Basis für politische Entscheidungen. Wasserstoff wird für die Speicherung von überschüssigem Grünstrom voraussichtlich keine wesentliche Rolle spielen.
Der Blick in die Zukunft spricht für die Elektronenwirtschaft, weil sie wesentlich effizienter ist als die Wasserstoffwirtschaft. Vor allem aber wird sie bereits heute von der technischen Entwicklung unterstützt, also vom Siegeszug der Photovoltaik und des Elektromobils. Die Politik ist gut beraten, diesen Trend durch geeignete Massnahmen zu unterstützen. Der Energieverbraucher muss die Notwendigkeit der Energiewende verstehen, um sich aktiv daran zu beteiligen. Im Endbereich der Energienutzung sollten Eigeninitiativen unbürokratisch unterstützt werden, denn die Notwendigkeit der Energiewende wird bereits weitgehend akzeptiert. Mit der Förderung von Eigeninitiativen könnten private Investoren ihre Energieversorgung in Richtung Elektronenwirtschaft ändern. Es sollten Massnahmen ergriffen werden, die für das Handwerk und die mittelständige Wirtschaft förderlich sind.
Anreize schaffen
Vielleicht können private Initiativen mit „Belohnungen“ schneller ausgelöst werden als mit bürokratisch gestalteten Förderprogrammen. Man könnte beispielsweise Hausbesitzer nach einer energetischen Gebäudesanierung mit einer richtig bemessenen kleinen Wärmepumpe belohnen. Denkbar wäre auch, wenn dem Käufer eines Elektromobils die Materialkosten für die Ladestation vom Staat unbürokratisch erstattet würden. In beiden Fälle profitiert die heimische Wirtschaft.
Haus- oder Fahrzeugbesitzer müssten lediglich die Installationskosten übernehmen und könnten sich mit Eigenleistungen an der Umrüstung beteiligen. Die Energiewende lässt sich am schnellsten verwirklichen, wenn sich alle betroffen fühlen und handeln können. Mit bürokratischem Aufwand werden Eigeninitiativen unnötig erschwert. Der Staat sollte die Elektronenwirtschaft zum Ziel der Energiewende erklären. Erst dann kann man der Energieverbraucher zielorientiert handeln.
Fazit
Die geäusserten Erkenntnisse basieren auf einer gründlichen Analyse der Wasserstoffwirtschaft, die ich bereits 2003 unter dem Titel „The Future of the Hydrogen Economy: Bright or bleak?“ veröffentlicht habe (https://www.planetforlife.com/pdffiles/h2report.pdf). Die deutsche Version (https://www.leibniz-institut.de/archiv/bossel_16_12_10.pdf) „Wasserstoff löst keine Energieprobleme“ steht seit 2010 im Netz. Klaus Maier hat kürzlich in seinem Gutachten für die Hessische Landesregierung das Thema Wasserstoff ausführlich und kompetent mit gleichem Ergebnis dargestellt (https://magentacloud.de/s/mz8ogDtxLPzX7Gb).
Mit einer Wasserstoffwirtschaft kann die Energiewende nicht gelingen. Inzwischen hat man auch die Gefahr einer Klimakatastrophe erkannt. Wir müssen das Wendeziel neu definieren: Zukunft ohne CO2. Mit zügiger Verwirklichung der Elektronenwirtschaft können wir die Klimakatastrophe vermeiden. Mit Wasserstoff begeben wir uns auf den Holzweg ins Ungewisse.
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Über den Autor:
Seit 1972 befasst sich Dr. Ulf Bossel mit der rationellen Energienutzung und der Energiegewinnung aus erneuerbaren Quellen, also mit dem, was seit 1978 als „Energiewende“ bezeichnet wird. Er ist Berater für nachhaltige Energieösungen und Ph.D. (UC Berkeley), Dipl. Masch. Ing. (ETH Zürich).
„In den vergangenen Jahrzehnten sind bei mir viele Überlegungen gereift und verworfen worden, oder sie haben sich aufgrund ihrer physikalischen Begründung gefestigt. Was ich jetzt präsentiere sind keine Wunschvorstellungen eines Neulings, sondern nachvollziehbare Erkenntnisse eines Ingenieurs mit speziellen Kenntnissen auf den Gebieten Energietechnik, Thermodynamik und Strömungsmechanik. Ich hoffe sehr, dass meine Vorstellungen auch von denen verstanden werden, die sich erst jetzt der Diskussion über unsere Energiezukunft angeschlossen haben“
Ulf Bossel