Naturschutzbegleitforschung auf dem weltweit ersten Windenergie-Testfeld
Maja sitzt seit einer halben Stunde auf der Wiese und bewegt sich nicht. Über ihr zieht ein Vogelpaar seine Kreise. Es sind Rotmilane. Sie haben den Uhu längst entdeckt, doch noch greifen sie ihn nicht an, obwohl er nur wenige Meter von ihrem Horst mit den Jungvögeln entfernt ist. Sie kreisen und kreisen und können sich nicht entschließen, ihren größten Feind aus der Nähe ihres Nests zu vertreiben. Doch darauf warten alle, die am Feldrand stehen und das Schauspiel gespannt mitverfolgen. Das Uhu-Weibchen Maja ist ein Lockvogel. Es wurde von einem Falkner für diese Aktion speziell ausgebildet und soll die Rotmilane zu einem Angriff animieren. Hinter dem Uhu, der auf einem Holzpflock sitzt, hängt ein Netz. Sobald sich einer der Rotmilane Maja nähert, bleibt er im Netz hängen. Das dauert nur kurz. Ausgestattet mit einem kleinen, leichten GPS-Sender, mit dem sein Flugverhalten studiert werden kann, soll der Vogel schnell wieder entlassen werden. Die Aktion im Rahmen der Naturschutzbegleitforschung steht im Einklang mit den Naturschutzgesetzen und wurde von den Naturschutzbehörden genehmigt.
Das Rotmilan-Pärchen zieht seinen Nachwuchs an einem besonderen Ort auf: Es ist das Gebiet des Windenergie-Forschungstestfelds WINSENT, das vom Zentrum für Sonnenenergie und Wasserstoff-Forschung Baden-Württemberg (ZSW) auf dem Stöttener Berg errichtet und betrieben wird. Dass der Rotmilan hier brütet, ist gewünscht, denn das Verhalten des Greifvogels, der auf der Schwäbischen Alb nicht selten ist, soll in der Naturschutzbegleitforschung zum Windenergie-Testfeld erforscht werden. Am Standort des Windtestfelds auf der Hochebene bei Stötten erfassen zudem ein Radargerät sowie mehrere Kamerasysteme und Mikrofone, die an den beiden Wind-Messmasten installiert sind, tagsüber und nachts die Bewegungen von Vögeln, Fledermäusen und großen Insekten. Das Projekt ist einzigartig, weil es mit seinen unterschiedlichen Forschungsansätzen dazu beiträgt, Naturschutz und Windenergie in Einklang zu bringen.
Kollisionen mit Windenergieanlagen vermeiden
Das Forschungsvorhaben «NatForWINSENT – Naturschutzforschung im Windenergietestfeld» wird vom Bundesamt für Naturschutz (BfN) mit Mitteln des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU) gefördert. Für die Besenderung der Rotmilane gibt es außerdem einen finanziellen Zuschuss vom Umweltministerium Baden-Württemberg.
Die ZSW-Wissenschaftler werden in ihrer Naturschutzbegleitforschung am Stöttener Berg von einem internationalen Team aus Wissenschaftlern unterstützt. Dazu zählen unter anderem das Freiburger Institut für angewandte Tierökologie und Bio-Scouting Tübingen. Die Federführung bei der Rotmilan-Besenderung hat die Schweizerische Vogelwarte Sempach. Ziel der Vogelschützer ist es, das Verhalten der Vögel genau zu studieren, um so auf Basis der Forschungsergebnisse Kollisionen mit Windkraftanlagen zukünftig noch besser zu verhindern. Hierfür werden auch verschiedene technische Systeme zur Vermeidung von Vogelkollisionen an Windenergieanlagen erprobt. „Uns war es sehr wichtig, dass wir viele Naturschutzpartner und Wissenschaftler mit ins Boot nehmen, um ihre Expertise zu nutzen und unsere Forschung breit aufzustellen“, berichtet Frank Musiol, der im Team Windenergie des ZSW die Naturschutzforschung leitet. Das Projekt stößt auf großes Interesse bei der Bevölkerung und wird von regionalen Naturschutzorganisationen unterstützt.
An diesem Morgen ist wieder Vogelkundler Dr. Herbert Stark dabei, der jede Aktion begleitet. Der Ornithologe zeigt den GPS-Sender, mit dem der Rotmilan nach seinem Fang ausgestattet werden soll. Der kleine schwarze Sender mit dem Solarmodul wiegt nur wenige Gramm. „Rotmilane sind ihrem Horst treu; sie kommen jedes Frühjahr, nachdem sie den Winter in Südeuropa verbracht haben, wieder zurück an ihren Standort. Und das über mehrere Jahre hinweg“, erzählt er.
Drei Horste wurden in diesem Jahr in der unmittelbaren Umgebung des Testfelds von Brutpaaren besiedelt; in allen befinden sich derzeit Jungvögel. Im Februar hatten die Wissenschaftler Kameras über zwei der Horste angebracht. So konnten sie beobachten, wie die Rotmilanpaare im Frühjahr ihre Nester einrichteten. Ein Weibchen legte schon sehr früh seine Eier und blieb trotz des Wintereinbruchs im April bei Schnee und Kälte im Nest, um die Eier auszubrüten. Die ersten Wochen nach dem Schlüpfen der Jungen verbringt das Weibchen fast ständig am Horst, versorgt die Nestlinge und verfüttert die vom Männchen herbeigebrachte Nahrung, die vor allem aus Kleinsäugern und Vögeln besteht. Die Nestlingszeit beträgt, abhängig von Witterung und Nahrungsangebot, zwischen 48 und 54 Tagen. In Extremfällen fliegen die Jungen erst nach 70 Tagen aus.
Verhalten der Vögel erforschen
Bereits im Juni 2019 konnten zwei in der Umgebung des Testfelds lebende männliche Rotmilane mit GPS-Sendern ausgestattet werden. Das geschieht ohne Einschränkungen für die Vögel. Die Bewegungsdaten der beiden Greifvögel werden seitdem durchgehend aufgezeichnet. Vor allem die Flughöhe wird erfasst, um zu prüfen, ob sich die Vögel in der Höhe der Rotoren bewegen. Daneben spielt aber auch die Fluggeschwindigkeit eine wichtige Rolle – insbesondere, wenn Detektionssysteme als Maßnahme zur Vermeidung von Kollisionen eingesetzt werden sollen. Um beispielsweise rechtzeitig das Austrudeln der Windrotoren auslösen zu können, sind Informationen über die Fluggeschwindigkeit der Vögel wichtig. Die Forscher wollen zudem Vergleichsdaten sammeln. Sie erforschen deshalb, wie sich die Vögel vor der Errichtung der Windkraftanlage und während des Betriebs verhalten. Daneben werden auch Daten gesammelt, die für die Vogelschützer allgemein von großem Interesse sind und in ihre Forschung einfließen.
Das Rotmilan-Paar hat sich inzwischen entschieden, den Uhu nicht anzugreifen. Falkner Michael Schanze setzt Maja in ihren Käfig zurück. Sie darf sich erst einmal ausruhen, bevor ein neuer Fangversuch in der Nähe eines anderen Nests mit Jungvögeln gestartet wird. Maayen Wigger, wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZSW, baut zusammen mit dem Ornithologen das Netz auf; davor wird dann der Lockvogel gesetzt. Normalerweise arbeitet der ZSW-Mitarbeiter an den 100 Meter hohen Wind-Messmasten, die vom ZSW auf dem Windenergie-Forschungstestfelds WINSENT errichtet wurden. „Meine Aufgaben sind eigentlich die Erfassung der meteorologischen Daten, deren wissenschaftliche Auswertung sowie die Installation und der Betrieb von Sensoren, doch beim Rotmilanfang unterstützen alle aus unserem Windenergie-Team die Vogelexperten“, erzählt er.
Uhu-Weibchen Maja ist inzwischen an dem neuen Standort angekommen, der wieder in der Nähe eines Nests mit Jungvögeln ist. Diesmal sind die Eltern mutiger. Immer wieder kreisen sie um den Uhu. Dann ist es soweit: Im Sturzflug fliegt einer der Rotmilane auf den Uhu zu und geht ins Netz. Schnell ist Herbert Stark zur Stelle und nimmt ihn behutsam in die Hand. Der Ornithologe wiegt das Tier, bestimmt Geschlecht und Alter und beringt es. Es ist ein Weibchen, etwa vier Jahre alt. Anschließend wird der Sender wie ein Leicht-Rucksack auf dem Rücken befestigt und der Vogel sofort wieder freigelassen. Lise, wie die Wissenschaftler das Rotmilan-Weibchen getauft haben, sammelt nun fleißig Bewegungsdaten.
Mit Künstlicher Intelligenz Vogelarten besser schützen
Die Informationen über das Verhalten der Rotmilane dienen den ZSW- Wissenschaftlern unter anderem als Grundlage, um einen sogenannten „Bird-Recorder“ zu entwickeln, ein kameragestütztes System, das mithilfe von künstlicher Intelligenz geschützte Vogelarten erkennen und Kollisionsvermeidungsmaßnahmen bis hin zum Stopp der Windrotoren auslösen wird. „Ziel ist die Entwicklung eines preiswerten, robusten und sehr zuverlässigen Systems, das später in Windparks eingesetzt und auch nachgerüstet werden kann. Damit sollen unter anderem pauschale Abschaltzeiten zum Schutz von Greifvögeln, die immer häufiger auferlegt werden, überflüssig werden. Auf diese Weise wird die Stromproduktion erhöht und gleichzeitig sind die Vögel geschützt“, erklärt Frank Musiol.
Auf der Schwäbischen Alb entsteht das weltweit erste Forschungstestfeld zur Windenergie in komplexem Gelände. Ein Alleinstellungsmerkmal ist auch, dass die Forscher vollständigen Zugriff auf die Anlagensteuerung haben. Das einzigartige Projekt hat für den Windenergieausbau und damit auch für die Energiewende große Bedeutung. Windenergie ist der Motor der Energiewende. Mit dem Windenergie-Testfeld soll der Windenergieausbau insbesondere im süddeutschen Raum Aufwind bekommen. Das ZSW arbeitet zusammen mit Partnern des Windenergie-Forschungsclusters WindForS, zu dem verschiedene Universitäten und Hochschulen gehören. In dem Projekt „Wind Science and Engineering Test Site in Complex Terrain WINSENT“ wird untersucht, wie Windkraftanlagen in einem bergigen Gelände mit unregelmäßigen Windströmungen und Luftverwirbelungen optimal betrieben und ihre Lebensdauer verlängert werden kann. Die Wissenschaftler streben dort zahlreiche technologische Verbesserungen an wie leisere, leichtere und leistungsstärkere Rotoren oder die Optimierung von Simulations- und Computermodellen. Die Ergebnisse der Forschungen auf dem Windenergie-Testfeld können auf kommerzielle Großanlagen übertragen werden und der Industrie neue Impulse liefern.
Gläserne Anlage
Das nichtkommerzielle Windtestfeld verfügt nach vollständiger Errichtung über insgesamt zwei Forschungswindenergieanlagen mit einer Nennleistung von jeweils 750 Kilowatt und einer Nabenhöhe von 73 Metern sowie vier Windmessmasten, an denen verschiedene Forschungsmodule entwickelt und erprobt werden. Die Einzigartigkeit des WINSENT-Projekts besteht darin, dass die Wissenschaftler uneingeschränkt Zugang zu den Konstruktionsdaten, Betriebsführung und den Reglern der somit „gläsernen“ Anlagen haben. Von den meteorologischen Messmasten auf der Plattform werden Standortbedingungen optimal erfasst und Modelle entwickelt – und das bei laufendem Betrieb. Mit der Naturschutzbegleitforschung sollen Klimaschutz und Naturschutz zusammenwirken und die Akzeptanz in der Bevölkerung für die Nutzung der Windenergie erhöht werden.
Über das ZSW
Das Zentrum für Sonnenenergie- und Wasserstoff-Forschung Baden-Württemberg (ZSW) gehört zu den führenden Instituten für angewandte Forschung auf den Gebieten Photovoltaik, regenerative Kraftstoffe, Batterietechnik und Brennstoffzellen sowie Energiesystemanalyse. An den drei ZSW-Standorten Stuttgart, Ulm und Widderstall sind derzeit rund 300 Wissenschaftler, Ingenieure und Techniker beschäftigt. Hinzu kommen 100 wissenschaftliche und studentische Hilfskräfte. Das ZSW ist Mitglied der Innovationsallianz Baden-Württemberg (innBW), einem Zusammenschluss von 13 außeruniversitären, wirtschaftsnahen Forschungsinstituten.
www.zsw-bw.de