„Um die spezifischen Kosten pro Zählpunkt zu senken, müssen Versorger ihre Prozesse noch stärker digitalisieren und automatisieren“
25 Jahre nach Beginn der Liberalisierung der Strom- und Gasversorgung erleben Stadtwerke und Energieversorger den nächsten, noch größeren Paradigmenwechsel: die forcierte Dekarbonisierung des Energie-, Mobilitäts- und Wärmesektors – und das bei weiter zunehmendem Wettbewerbsdruck. In diesem Wandel spielt die Digitalisierung als Enabler und Katalysator eine immer wichtigere Rolle. Kein Zufall, dass in diesem Jahr die IVU Informationssysteme GmbH in Norderstedt ihr 25-jähriges Bestehen feiert. energie.blog wollte von Geschäftsführer Julian Stenzel wissen, wie er die Lage einschätzt und mit welchen Rezepten die Branche in eine erfolgreiche Zukunft steuern kann.
e.b: Die Prozesse in der Energiewirtschaft sind im Laufe der letzten Jahre immer komplexer geworden. Jetzt wachsen mit der Energiewende die Sektoren zusammen, neue Marktrollen wurden geschaffen. IT wird immer wichtiger, um der vielschichtigen Prozesse überhaupt noch Herr zu bleiben. Wie fällt Ihre Ist-Analyse aus?
Stenzel: Mit der Liberalisierung der Energiewirtschaft hat damals in der Tat ein großer Veränderungsprozess eingesetzt. Ob alle Maßnahmen immer zielführend und erfolgreich waren, kann man sicherlich diskutieren, aber die Liberalisierung hat definitiv zu mehr Wettbewerb geführt. Mit der Dekarbonisierung der Erzeugung und der damit verbundenen Dezentralisierung des Energiesystems wurde eine zweite große Veränderungswelle ausgelöst. Seit Kurzem kommen parallel die Auswirkungen des Ukraine-Krieges verschärfend hinzu, in Form enorm gestiegener und hochvolatiler Energiepreise und entsprechender Beschaffungsrisiken. Egal, ob man auf die technischen oder kaufmännischen Prozesse von Versorgungsunternehmen schaut – auf allen Ebenen sehen wir eine stark gestiegene Komplexität: Photovoltaik-Anlagen, Wärmepumpen, Ladeinfrastruktur und Stromspeicher müssen administriert und gesteuert werden. Der Wandel tangiert und verändert das gesamte Aufgabenspektrum in Vertrieb und Netz: Bilanzierung, Beschaffung, Abrechnung, Asset-Management, Netzsteuerung usw. All diese Aufgaben lassen sich nur durch leistungsfähige IT in den Griff bekommen.
Standardsoftware für Querverbundunternehmen
e.b: Was kann ein Anbieter von Branchensoftware wie IVU tun, um seinen Kunden das Leben leichter zu machen?
Stenzel: Wir haben uns vor 25 Jahren dazu entschieden, für alle Aufgaben typischer Querverbundunternehmen in Deutschland Standardsoftware anzubieten. Entgeltabrechnung, Anlagenbuchhaltung, Materialwirtschaft, Finanzbuchhaltung, Rechnungswesen, Controlling, Billing, Marktkommunikation, Energiedatenmanagement usw. – für all das erarbeiten wir mit unseren starken Partnern, wie die Wilken Software Group, und Kunden zusammen Standards. Wir sprechen vom IVU-Standard, der es ermöglicht, Formatänderungen und Upgrade-Projekte in relativ kurzer Zeit mit geringen Migrationskosten umzusetzen. Dank Template-Ansatz sind auch die Beratungsaufwände gering. Wobei unsere Kunden stets die Möglichkeit zur Individualisierung haben. Durch die gemeinsame Beschaffung mit der VU-ARGE erzielen wir außerdem Größen- und Skalierungseffekte, die sich in stark reduzierten Lizenz- und Wartungskosten bei unseren Kunden niederschlagen.
Kommunikations- und Kontaktkosten bleiben hoch
e.b: Welche Herausforderungen kommen in Zukunft auf die Versorger zu? Auf was werden Sie als Partner der Branche sich einstellen müssen?
Stenzel: Ich glaube, dass die Digitalisierungsgeschwindigkeit von Prozessen noch zunehmen wird, insbesondere wenn demnächst der Markt im Zuge des Rollouts intelligenter Messsysteme und darauf basierender Geschäftsmodelle anspringen wird. Unsere Analysen zeigen auch, dass die Kommunikations- und Kontaktkosten hoch bleiben oder sogar wachsen. Um die spezifischen Kosten pro Zählpunkt zu senken und um wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen Versorger diese Prozesse noch stärker digitalisieren und automatisieren. Dies gilt insbesondere für Massenprozesse wie Umzugsmeldungen, Abschlagsänderungen oder auch Marktdatenänderungen. Aus diesen und vielen weiteren Anforderungen erwachsen die Prämissen für unsere Arbeit als IT- und Beratungsdienstleister.
Kaufmännische und technische Prozesse werden verzahnt
e.b: Hat die Digitalisierung also gerade erst begonnen?
Stenzel: Ich tue mich mit dem Wort Digitalisierung immer schwer, weil wir in den 90er Jahren auch schon Dinge getan haben, die eine Digitalisierung darstellten. Ich glaube aber, dass die Digitalisierung nochmals eine neue Qualität bekommt. Unter dem wachsenden Handlungsdruck reift die Erkenntnis, dass wir bereichsübergreifende, ganzheitliche Prozessketten brauchen. Wir glauben fest daran, dass Backoffice- und kaufmännische Prozesse eng verzahnt werden mit technischen Prozessen. Netz und Vertrieb kommen sich prozessbedingt wieder näher. Ein gutes Praxisbeispiel ist die Netzanschlussplattform der SoftProject GmbH, mit der die Installation etwa einer PV-Anlage oder einer Wallbox vom Anschlussersuchen des Kunden über Prüfung, Genehmigung, Installation, Inbetriebnahme und Abrechnung rollenübergreifend in einem System von A bis Z digital und medienbruchfrei abgewickelt werden kann.
Outsourcing hat Grenzen
e.b: Wie reagieren die Versorger auf die veränderte Situation? Insbesondere durch Wettbewerb und Kostendruck sind Kooperationen entstanden. Auch Outsourcing von Geschäftsprozessen ist heute kein Einzelfall mehr. Wird dieser Trend zunehmen?
Stenzel: Man muss da sicherlich von Unternehmen zu Unternehmen unterscheiden, aber generell werden wir in den kommenden Jahren verstärkt erleben, dass beispielsweise gemeinsam beschafft wird oder man bei bestimmten Prozessen horizontal kooperiert. Das passiert in unserem Kundenkreis bereits – und wir als IVU sind dafür ja letztlich auch ein sehr gutes Beispiel. Beim Prozess-Outsourcing wäre ich etwas vorsichtiger. Selbstverständlich kann es sinnvoll sein, etwa das Billing oder die Marktkommunikation auszulagern, wenn dies einfacher und günstiger ist, als den Prozessapparat selbst aufzubauen und zu betreiben. Outsourcing hat in meinen Augen aber auch Grenzen. Denn wenn viele Prozesse ausgelagert werden, gehen dem Unternehmen auch Know-how und Kompetenz verloren. Dies wiegt insbesondere bei Zukunftsprojekten schwer, in denen es immer mehr auf energiewirtschaftliches und IT-Know-how ankommt.
e.b: Herr Stenzel, vielen Dank für das Gespräch!