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Energiewende: eine kleine Thesen- und Ideensammlung für das Gelingen

Gerhard Großjohann zur Energiewende
Teilhabe ist nicht nur ein Schlüssel zur Akzeptanz der Windenergie, sondern für das Gelingen der Energiewende insgesamt, meint Gerhard Großjohann, Mithaber von energie.blog. (Bild: Kai Uwe Oesterhelweg)

14 Denkanstöße für eine umwelt- und sozialverträgliche Energiezukunft

Von Gerhard Großjohann

  1. Energiewende funktioniert nur technologie- und energieträgeroffen. Grüner Strom, grüner Wasserstoff, Biomasse, Biokraftstoffe, Geothermie, Speicher, Brennstoffzelle, Verbrennungsmotor, Wärmepumpe, Solarthermie usw. – alles wird in den verschiedenen Sektoren und für verschiedene Anforderungen unverzichtbar sein. Nur intelligent zusammengefügt ergeben die Puzzleteile ein sinnvolles Gesamtbild und funktionierendes Ganzes.
  2. Trotzdem wird der Strombedarf beim Transformieren des Energieeinsatzes in den verschiedenen Sektoren (insbesondere Mobilität und Wärmeversorgung) insgesamt dramatisch wachsen. Auch die fortschreitende Digitalisierung benötigt mehr und mehr elektrische Energie. Der bislang erreichte Grünstromanteil im Strommix wird sich vervielfachen müssen. Wie kann das gelingen?
  3. Wir brauchen noch viel mehr Windkraft – onshore und offshore. Hier sollte eine gewisse Aufgabenteilung stattfinden. Offshore könnten sich vorrangig die kapitalkräftigen Energieriesen betätigen, onshore in erster Linie Stadtwerke, Energiegenossenschaften und andere lokale Player. Windkraft vor Ort wird mehr Akzeptanz finden, wenn eine aktive Teilhabe der Menschen möglich ist. Wenn mir jemand Fremdes eine Windmühle vor die Nase setzt, wäre ich auch nicht erfreut. Wenn mir der Projektierer aber anbieten würde, dass ich mich als Nachbar der WKA mit einer kleinen Anzahl Kilowatt Leistung daran beteiligen kann und dass ich den anteilig erzeugten Strom selbst konsumieren kann, sähe meine Zustimmungsbereitschaft anders aus. Es wäre dann nämlich auch „meine Windmühle“. Mit diesem Ansatz ließen sich in vielen Fällen die Abstandsdiskussionen entschärfen. Ähnliche Beteiligungsmodelle gibt es schon im PV-Bereich, sie lassen sich technisch und organisatorisch problemlos umsetzen. Der Vorschlag der SPD; Menschen in Windanlagennähe finanziell zu entschädigen, birgt ehr Spalt- als Befriedungspotenzial. Teilhabe ist der Schlüssel zur Akzeptanz! Die Teilhabe aller ist für die Energiewende insgesamt ein unverzichtbarer Faktor für das Gelingen!
  4. Warum redet eigentlich kaum jemand über Klein- und Kleinstwindanlagen? Unter den gegebenen Prämissen kann es sich Deutschland nicht leisten, auf den Strom aus dieser bislang nur marginal genutzten Quelle zu verzichten.
  5. Auch das Photovoltaik-Potenzial ist noch bei weitem nicht ausgeschöpft. Wohnneubauten sollten verpflichtend mit PV-Anlage oder Solarziegeln – und selbstverständlich auch Stromspeichern – ausgestattet werden. Große Gewerbe-, Industriebauten und andere Zweckbauten sollten mit PV-Fassaden verkleidet werden.
  6. Wer seinen Heizkessel erneuern muss und nicht auf Biomasse, Geothermie oder Wärmepumpe umsteigen kann oder will, sondern weiter mit Gas heizen möchte, sollte/könnte dies unter Einsatz der Kraft-Wärme-Kopplung tun – also per (Mini-) BHKW oder Brennstoffzelle. Gas (und später einmal Wasserstoff) sollte nicht mehr einfach nur „verheizt“ werden, sondern im Zuge der Energieumwandlung die maximal gewinnbare Strommenge abwerfen.
  7. Selbstverständlich muss weiter an allen Ecken und Enden an der Energieeffizienz gearbeitet werden, um den spezifischen Energiebedarf von Gebäuden, Geräten und Fahrzeugen zu senken. Energiesparen wird insbesondere den Mehrbedarf an Strom aber nicht kompensieren. Es wird ein wichtiger Energiewende-Baustein sein – aber eben nur einer unter vielen.
  8. Die Energiewende muss ohne nennenswerten persönlichen Verzicht und Komfortverlust möglich sein. Und sie muss zugleich kosteneffizient und sozial gerecht gestaltet werden. Durch den Klimawandel droht zweifellos eine Katastrophe mit unabsehbaren Folgen. Verteuert sich die Energie aber zu stark und wird für viele Menschen zum Luxusgut, das kleine Budgets immer stärker belastet, ohne dass an anderer Stelle eine spürbare Kostenentlastung eintritt, gefährdet dies den sozialen Frieden. Wenn sich abgehängt, verarmt oder ausgegrenzt fühlende Teile der Gesellschaft rebellieren oder sich gar radikalisieren, wird es erst recht ungemütlich im Land. Die teilweise aus dem Ruder laufenden Gelbwesten-Proteste in Frankreich sollten eine Warnung sein. Die Energiewende darf nicht zum Katalysator solcher Entwicklungen werden. Die Kosten der Energiewende im Zaum zu halten bzw. diese sozialverträglich zu kanalisieren, ist für mich eine der zentralen Herausforderungen.
  9. Ohne ein bisschen Öko-Dirigismus wird es nicht gehen. Der Staat muss sicherlich fordern und lenken, aber er muss auch intelligent(er!) fördern – siehe beispielsweise oben die Thesen 5 und 6. Angesichts der existenziellen Bedeutung der Energiewende sollte der Bund zudem in viel größerem Ausmaß Fördermittel für einschlägige Forschung und den verstärkten Einsatz innovativer Technologien bereitstellen. Was allerdings bedingen würde, dass er Veränderung wirklich will und einen ausgewogenen Plan zur Umsetzung hat. Hier sehe ich bislang allenfalls Ansätze. Die jüngst beschlossenen BAFA-Zuschüsse und Steuererleichterungen für Heizungsmodernisierungen auf Basis neuer Solar-/Gashybridheizungen etwa sind ein halbgarer Kompromiss – weil er die dauerhafte Existenz eines letztlich klimaschädlichen Energieträgers begünstigt. (Ich teile die Position, dass Erdgas eine Brückentechnologie für die Energiewende ist – weil die Gasnetzbetreiber die Infrastruktur für eine zukünftige Wasserstoffwirtschaft bereitstellen. Förderung und Verbrennung allerdings sind klimaschädlich) Für mich ist das Trio Grünstrom, Stromspeicher und Wärmepumpe in Kombination mit perfekter Gebäude-Isolierung das beste massentaugliche Wärmeversorgungskonzept – zumindest außerhalb von Ballungsgebieten. Dramatisch sind die politischen Versäumnisse bei der Windenergie: Wie man sehenden Auges die einst florierende Branche vor die Wand fahren lässt, macht sprachlos. Energiepolitik kennzeichnet leider viel Pepita, viel Lobbyeinfluss, zu wenig Mut, zu wenig strategische Konsistenz.
  10. Die Dekarbonisierung des Verkehrssektors wird nicht allein durch Elektrifizierung gelingen. Elektromobilität nach heutigem Konzept und auf Basis aktuell verfügbarer Technik ist prädestiniert für tendenziell kurze Strecken. Lange Ladezeiten machen „tanken“ unterwegs unattraktiv. Der Güterfernverkehr auf der Straße lässt sich so nicht organisieren. Biogene oder mit Grünstrom erzeugte synthetische Treibstoffe sind die Alternative. Wollte man den Fernlastverkehr elektrifizieren, könnte man die Batterien mobil machen. Roboter könnten den Batteriewechsel an den Tank- und Raststellen automatisiert vollziehen. Damit würden neue netzdienliche Ladekonzepte möglich, würde man etwa die Batterien lastzugweise direkt am Windpark aufladen. Gleiches wäre für den Schiffs- und Fährverkehr denkbar. Kosten und Standardisierungszwänge stehen einem Batterieaustausch-Konzept im Weg. Elektrisch fliegen wird – wenn überhaupt – nur im Nahverkehrsbereich sinnvoll möglich sein (Drohnen, Lufttaxis…). Ein großer Pferdefuß der Stromspeichernutzung sind Umweltschäden, die beim Gewinnen der Rohstoffe für die Batterieherstellung entstehen. Stromspeichereinsatz und Elektromobilität hierzulande erzeugen anderenorts auf der Welt erhebliche Umweltschäden.
  11. Die Stadtwerke müssen auf dem Weg zur Energiewende ihre abwartende Haltung aufgeben und in die Offensive gehen. Es gibt einige Vorreiter, aber das Gros der Unternehmen befindet sich noch im Weiter-so-Modus und folgt dem Trend erst dann, wenn es gar nicht mehr anders geht. Die Vogel-Strauß-Strategie ist keine Option, wenn globale Strömungen wie Wettbewerb, Klimaschutz und Digitalisierung nicht zu verhindern sind. Digitalisierung und Energiewende werden das Veränderungstempo drastisch beschleunigen. Aussitzen wird nicht länger funktionieren. Stadtwerke sollten sich mit dem Unausweichlichen nicht nur arrangieren, sondern versuchen, das Beste daraus zu machen und sich an die Spitze der Bewegung zu setzen. Das Risiko, dabei im Einzelfall zu scheitern, ist viel geringer, als nichts oder widerwillig nur das Allernötigste zu tun. Entweder man surft auf der Welle des Wandels, oder man wird von ihr hinweggespült.
  12. Mal etwas größer gedacht: Ist es ökologisch und ökonomisch überhaupt sinvoll, in Deutschland viele kleine und durchaus kostspielige Energiewendeprojekte umzusetzen? Klar, mehr Energieunabhängigkeit wäre wünschenswert. Aber ein Industrieland wie Deutschland – zumal angesiedelt auf Breitengraden mit energetisch anspruchsvollen Jahreszeiten – wird seinen Energiehunger kaum ohne Importe stillen können. Wäre es nicht schlau, beispielsweise mit politisch stabilen Staaten in (Nord-) Afrika bilaterale Energie- und Entwicklungspartnerschaften zu schließen? Strom und Wasserstoff aus Wind und Sonne gegen Technologie und Devisen – wäre das nicht ein sinnvoller Deal?
  13. Nochmal den größeren Maßstab angelegt: Wenn es um wirksamen Klimaschutz geht, brauchen wir eigentlich das Pareto-Prinzip: Mit 20 % Einsatz 80 % Wirkung erzielen. Die Low-Hanging-Fruits ernten, und nicht mit weiteren 80 % Einsatz auch noch die letzten 20 % Ertrag aus der Zitrone pressen. Das ist in der aktuellen Situation Ressourcenverschwendung. Dieses Konzept würde allerdings bedeuten, dass man Investitionen in klimarelevante Projekte steckt, die maximales Potential bieten. Auf der Suche danach würde man zwangsläufig auf Entwicklungs- und Schwellenländer stoßen. Diese mit modernster erneuerbarer Energiegewinnungs- und Effizienztechnik auszurüsten, brächte klimaschutztechnisch mehr als hierzulande verbissen an Stellschrauben mit homöopathischer globaler Klimarelevanz zu drehen. Wir sollten verhindern, dass die unterentwickelten und aufstrebenden Staaten auf dem Weg in den Wohlstand jene Fehler wiederholen, die wir und andere Industriestaaten in der Vergangenheit gemacht haben. Es gibt Verteidigungs- und Wirtschaftsbündnisse auf dieser Welt. Warum werden angesichts der hochkritischen Klimaentwicklung keine internationalen Energiebündnisse geschlossen? Warum arbeiten die willigen Staaten nicht enger zusammen und legen einfach los? Warum sich von den notorischen Blockierern bei den Klimagipfeln immer wieder so viel Zeit und Energie rauben lassen? Warum nicht einfach loslaufen und zum Vorbild werden? Nicht durch Reden verändern wir die Welt, sondern durch Ausprobieren und (Vor-) Machen. Gelingen regt zur Nachahmung. Vorwürfe und Besserwisserei tun es nicht.
  14. Das Eine (internationale Klimaschutzaktivitäten) zu tun, hieße aber keineswegs, das Andere (Energiewende daheim) zu lassen. Selbstverständlich muss Deutschland seine Hausaufgaben im Klimaschutz vor der eigenen Haustür gründlich machen. Als Vorbild muss es glaubwürdig sein. Aber auch aus rein wirtschaftlicher Notwendigkeit: Deutschland wird nur dann wohlhabende Exportnation bleiben können, wenn es über die benötigten Produkte und Lösungen verfügt, die in Zukunft benötigt werden. Innovative Energietechniken aller Art werden zweifellos dazugehören.

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