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„Wir haben das unterschätzt“ – die allzu häufig verwendete, diskreditierende Beschwichtigungsfloskel

Wir haben das unterschätzt
Wird man auch beim Klimaschutz eines Tages sagen müssen „Wir haben das unterschätzt"? (Bild: Ekaterina Simonova / iStock)

„Wir haben das unterschätzt“ – das Eingeständnis der Faktenignoranz

Von Matthias Hüttmann *

„Wir haben das unterschätzt.“ Es gibt kaum ein seriöses Thema, das von dieser beschwichtigenden Floskel nicht diskreditiert wird. Keine andere Ausrede wird (immer) häufiger dafür verwendet, sich aus der Verantwortung zu stehlen. Das scheinbar nicht Vorhersehbare befreit von aller Untätigkeit und Unzulänglichkeit. Es kaschiert alles, das ignoriert und ausgesessen werden sollte.

Nicht vorhersehbar

Zur Pandemie wurde schon mehr als genug geschrieben, es ist kaum noch zu ertragen, darüber zu lesen und zu hören. Jedoch ist der Umgang mit dem Virus ein perfektes Spiegelbild unserer Herausforderungen. Betrachtet man einmal den Zeitverlauf öffentlich geäußerter Einschätzungen, wird das schnell deutlich. So hatte der sächsische Ministerpräsident Kretschmer am 02.12.2020 den famosen Satz geprägt, dass wir alle miteinander dieses Virus unterschätzt hätten. Ein solches Statement war angesichts der bis dahin global durchlebten Lockdowns und den stetig zu vernehmenden eindringlichen Hinweisen aus der Epidemiologie eigentlich komplett unglaubwürdig. Aber das ist nur ein Beispiel einer erfahrungsresistenten Äußerung. So schwang sich am 11.08.2020 der (mittlerweile Ex-) Bild-Chefredakteur Julian Reichelt zu der Aussage auf: „Wir haben Corona besiegt“. Dass dem nicht so war und ist, wissen eigentlich alle. Dennoch übertrafen sich viele gegenseitig in ihrer Einschätzung, dass man die Lage im Griff hätte und ein „Freedomday“ bald ausgerufen werden müsse. Die Folge: Im Herbst zeigt man sich erneut von der Lage überrascht. Zuletzt machte das der bayerische Minister Holetschek deutlich, als er am 03.11.2021 fabulierte, dass wir jetzt „eine Dynamik erleben, die wirklich nicht vorhersehbar war“. Fazit: Erst wird immer wieder, je nach vermeintlicher Stimmungslage, einfach das erzählt, was mutmaßlich gehört werden will. Dass dies sehr oft fernab von Fakten passiert, merkt man spätestens, wenn die Tatsachen an Mächtigkeit nicht mehr wegzudiskutieren sind. Dann wird einfach wieder die menschliche Karte gespielt und Überraschung gemimt.

Nicht aufgepasst in der Schule?

Möglicherweise handelt es sich tatsächlich um krasse Fehleinschätzungen unserer Entscheidungsträger, aber auch Medienschaffenden. Aber wahrscheinlich liegt es daran, dass zwar das Einmaleins beherrscht wird, sich mit Mathematik jedoch kaum je beschäftigt wurde. Denn eines macht auch unser ökonomisches Wachstumsmodell mit seinem steigenden Ressourcenverbrauch deutlich: Exponentialfunktionen sind weitgehend unbekannt. Für Prognosen und Entscheidungen behilft man sich lieber einfacher statischer Rechenmodelle. Das Verheerende: Die Zunahme eines exponentiellen Wachstums eskaliert quasi dynamisch. Um das zu verstehen, muss man keine logarithmischen Diagramme lesen können, aber dennoch begreifen, dass jeder Tag des Abwartens eine Situation schafft, die eine Umkehr um ein Vielfaches schwieriger macht.

Das Unwissen darüber ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass zwar über alle Disziplinen hinweg zum Thema Digitalisierung schwadroniert wird, sich mit den Auswirkungen von derlei rasanten technologischen und soziologischen Entwicklungen jedoch nur am Rande befasst wird. Denn schließlich leben wir in einer Zeit, in der exponentielles Wachstum unser täglicher Begleiter ist. Offensichtlich nehmen viele solche Exponentialreihen als gegeben hin, umreißen sie aber schlichtweg nicht. Beispiel Wirtschaft: Hier gilt der Zuwachs um ein Prozent bisweilen schon als Rückschritt, Stagnation wird zur Katastrophe.

Ökonomie ist keine Lebensgrundlage

Zur Ehrenrettung kann man einwerfen, dass wir exponentielle Entwicklungen kognitiv kaum erfassen können. Auch wenn uns die Mathematik vieles sehr gut verdeutlichen kann, übersteigt eine Exponentialreihe meist unsere Vorstellungskraft. Aber dass endloses Wachstum in einem endlichen Raum schlichtweg unmöglich ist, kann durchaus als eine banale Erkenntnis gelten. Ein solches Wachstum ist eine Illusion, ein theoretisches Modell der Wirtschaftswissenschaften. Und ob Ökonomie überhaupt eine Wissenschaft ist, steht noch dazu auf einem anderen Blatt. Schließlich gibt es für diese Disziplin keinen Nobelpreis, Alfred Nobel hatte das explizit nicht vorgesehen. Der sogenannte Wirtschaftsnobelpreis wird erst seit 1968 vom „Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften“ verliehen. Wäre Ökonomie dennoch eine Naturwissenschaft, müsste man konstatieren, dass auch hier mit Mathematik gearbeitet wird. Und so sollte man auch in dieser Parallelwelt wissen, dass alles begrenzt ist und selbst der Mensch begrenzte Ressourcen hat. Mathias Wackernagel, Präsident des Global Footprint Network, stellt deshalb auch die Frage, ob es denn wirklich ökonomisch sinnvoll sei, mehr zu brauchen als wir haben. Denn auch wenn die Welt und die Zukunft nie vorhersehbar waren, so der Entwickler des Konzepts des ökologischen Fußabdrucks, wissen wir, dass die Zukunft von ökologischer Knappheit und vom Klimawandel geprägt sein wird. Seine Mahnung: „Sich nicht darauf vorzubereiten, ist ökonomischer Wahnsinn“. Und nicht zu vergessen: Wirtschaftswissenschaft beschäftigt sich vor allem mit der Produktion, den Tausch und Konsum von Gütern und Dienstleistungen. Das ist jedoch nicht unsere Lebensgrundlage, sondern nur eine Beschreibung dessen, wie Menschen miteinander interagieren. Eine nie endende Beschleunigung unseres Lebens ist unmöglich, es gilt sie zu kontrollieren und vielmehr an uns und den Planeten anzupassen.

Die Ausrede

Möchte man so wenig wie nur möglich über bevorstehende Transformationen publik machen, wird versucht, die Menschen so lange wie möglich im Hier und Jetzt zu binden. Gedankliche Ausflüge in die Zukunft untermalt mit wissenschaftlichen Fakten gilt es tunlichst zu vermeiden. Kommt es dann dennoch so, wie eigentlich zu erwarten war, stellt man sich am besten dumm. Mit dieser Taktik ist schon so mancher davongekommen und wird es auch immer wieder versuchen. Verdrängung als politisches Modell war schon seit jeher erfolgversprechend. Das Problem ist, dass wir es immer wieder zulassen und solche einfachen und bewusst falschen Modelle bestehen bleiben.

Wir haben das unterschätzt* Matthias Hüttmann ist Chefredakteur der Fachzeitschrift SONNENENERGIE und der DGS News, herausgegeben von DGS Deutsche Gesellschaft für Sonnenenergie e.V.
www.dgs.de

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